Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
drangen dünne Strahlen weißen Lichts hervor. Wie bei einem Gemälde des Sterns von Bethlehem schwoll das Licht an und sandte breite Strahlen in alle Richtungen. Und dann verdichtete es sich langsam zu einer Gestalt – den Konturen eines Engels.
Die strahlende Gestalt war so hell, dass Tessa kaum direkt in das Licht schauen konnte. Dennoch erkannte sie die verschwommenen Umrisse einer männlichen Gestalt. Sie sah zwei Augen, die weder Iris noch Pupillen besaßen – nur gleißende Kristallflächen, die den Schein des Feuers widerspiegelten. Breite Schwingen ragten hinter den Schultern des Engels auf und jede einzelne Feder war mit einer Spitze aus glänzendem Metall bestückt. Seine Hände ruhten auf dem Heft eines eleganten Schwerts.
Dann heftete er seine strahlenden Augen auf Tessa. Warum versuchst du, mich zu zerstören? Seine Stimme klang lieblich und hallte wie Musik durch Tessas Kopf. Ich beschütze dich doch.
Plötzlich musste Tessa an Jem denken, wie er in seinem Bett gesessen hatte, mit bleichem, fieberglänzendem Gesicht gegen die Kissen gelehnt. Das Leben dreht sich um mehr als nur ums nackte Überleben. »Ich will nicht dich zerstören, sondern mich«, erwiderte Tessa.
Aber warum willst du das tun? Das Leben ist ein Geschenk.
» Ich versuche, das Richtige zu tun«, erklärte Tessa. »Dadurch dass du mich am Leben erhältst, erlaubst du gleichzeitig die Existenz des Bösen, die Existenz eines schrecklichen Übels.«
Böse. Die melodiöse Stimme klang nachdenklich. Ich bin schon so lange in meinem Klockwerk-Gefängnis eingesperrt, dass ich nicht mehr weiß, was Gut und Böse ist.
»Klockwerk-Gefängnis?«, wisperte Tessa. »Aber wie kann das sein, dass ein Engel eingesperrt ist?«
John Thaddeus Shade war derjenige, der mich festgesetzt hat. Er hat meine Seele innerhalb einer Beschwörungsformel eingefangen und dann in diesen mechanischen Korpus gesperrt.
»Genau wie eine Pyxis«, murmelte Tessa. »Nur dieses Mal wurde ein Engel eingesperrt statt eines Dämons.«
Ich bin ein Engel des Himmels, sagte der Engel und schwebte direkt vor ihr. Ich bin ein Bruder der Sijil, Kurabi und Zurah, der Fravashi und Dakini.
»Und … ist dies hier deine wahre Gestalt? Siehst du so aus?«
Du siehst nur einen Bruchteil meines wahren Ichs. In meiner wahren Gestalt bin ich von alles vernichtender, überwältigender Pracht. Mir gehörte die Freiheit des Himmels, ehe ich eingesperrt und an dich gebunden wurde .
»Das tut mir leid«, wisperte Tessa.
Du bist nicht diejenige, die dafür verantwortlich ist. Nicht du hast mich eingesperrt. Unsere Seelen sind zwar miteinander verbunden, doch schon in dem Moment, als ich dich zum ersten Mal im Mutterleib beschützt habe, wusste ich, dass dich keine Schuld trifft.
»Mein Schutzengel.«
Nur wenige können Anspruch auf einen einzelnen Engel erheben, der sie beschützt. Aber du schon.
»Ich möchte aber keinen Anspruch auf dich erheben«, sagte Tessa. »Ich möchte zu meinen eigenen Bedingungen sterben und nicht gezwungen werden, zu Mortmains Bedingungen zu leben.«
Ich kann dich nicht sterben lassen. Tiefer Kummer sprach aus der Stimme des Engels. Sie erinnerte Tessa an Jem, der mit seiner Geige die Musik, die in seinem Herzen wohnte, zum Ausdruck brachte. Das ist mein Mandat.
Tessa hob den Kopf. Der Feuerschein strahlte durch den Engel hindurch wie Sonnenlicht durch einen Kristall und warf einen farbigen Strahlenkranz an die Höhlenwände. Dies hier war kein von Grund auf böser Apparat – dies hier war reine Güte, verdreht und verbogen nach Mortmains Willen, doch von himmlischer Herkunft. »Als du noch ein freier Engel warst«, setzte Tessa an, »wie lautete da dein Name?«
Mein Name lautete Ithuriel.
»Ithuriel«, flüsterte Tessa und streckte dem Engel die Hand entgegen, als könnte sie ihn berühren und ihm irgendwie Trost spenden. Doch ihre Finger griffen ins Leere. Der Engel schimmerte und verblasste und hinterließ nur einen warmen, strahlenden Schein auf der Innenseite ihrer Lider.
Eine Woge kalter Luft streifte Tessa und sie fuhr mit einem Ruck hoch und riss die Augen auf. Sie lag halb ausgestreckt auf dem Steinboden vor dem fast erloschenen Feuer. Der Raum war dunkel, kaum beleuchtet vom rötlichen Schein der Glut im Kamin. Der Schürhaken hing unberührt an seinem Haken. Hektisch griff Tessa sich an den Hals – und fand den Klockwerk-Engel unversehrt an ihrer Kehle.
Ein Traum. Tessa sank der Mut. Es war alles nur ein Traum gewesen. Da war kein
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