Club der Verdammten 2 - Liebesseele (German Edition)
Als ob die Menschen etwas darauf gäben. Jeder war sich selbst der Nächste. Allein, wenn sie an ihre Stiefmutter dachte. Geldgieriges Dreckstück.
Emily flog weiter. Je weiter sie sich dem Flughafen näherte, desto mehr wuchs ihre Enttäuschung. Kein Fluglärm. Keine startende oder landende Maschine. Keine Lichter auf den Rollbahnen. Nur eine Notbeleuchtung deutete schwach das Terminal an. Sie pausierte auf einer Straßenlaterne, starrte minutenlang fassungslos auf den wie ausgestorbenen Flughafenbereich. Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte niemanden erreichen und sie musste nach Paris. Je schneller, desto besser. Sie musste mit Lara reden, sie auf ihre Seite bringen. Sie musste fort aus London … fort von dieser Frau, wenn sie nicht wirklich zur Mörderin werden wollte. Und vor allem fort von ihm. Ob er zum Schloss zurückgekehrt war? Oder in seinem Wasserturm auf Holly wartete? Vielleicht stand sie an der Spitze und warf ihr schwarzes Haar über die Mauer. Und er stand unten und rief: „Rapunzel, lass dein Haar herunter …“
Sie krächzte. Wäre es ein menschlicher Ton gewesen, der ihrem Schnabel entwich, hätte er vergrämt und vernichtet geklungen. Schachmatt.
Ja, so fühlte sie sich. Nicht einmal in der Lage, die schwache, ungeschützte Dame zu Fall zu bringen. Holly! Emily hackte mit dem Schnabel wild in ihr graues Federkleid, rupfte eine Feder aus. Noch eine. Doch der Schmerz, den sie hätte verspüren müssen, trat auch in ihrer Vogelgestalt nicht auf. Nichts, was sie tat, würde eine körperliche Pein erzeugen, die zumindest den Versuch hätte antreten können, ihre seelische zu lindern.
Oh Gott, sie war dabei, durchzudrehen. Nein, sie war nicht erst dabei, sie war bereits vollkommen durchgeknallt. Ihre gesamte Art, ihre Reaktionen. Sie kannte sich so nicht. Mit einem Mal wünschte sie sich zurück in das Seniorenheim. Ihre Tage waren gezählt gewesen. Bestimmt hätte sie mittlerweile das Zeitliche gesegnet – ihren 94. Geburtstag hätte sie nicht mehr erlebt.
Warum strafte das Schicksal sie so grausam? Was hatte sie angestellt, dass sie derart in Gericht genommen wurde? Sie hatte ein bescheidenes Leben geführt, nur selten mit sich und der Welt gehadert. Erst, nachdem ihr ein neues Dasein als Vampirin geschenkt worden war, hatte sie angefangen, Forderungen an ihr Dasein zu stellen und wie immer würden sich alte Weisheiten bewahrheiten: Wie gewonnen, so zerronnen.
Sie würde niemals ihr Glück finden. Verdammt, warum dachte sie immer nur an sich? Angst überkam ihre Seele. Was, wenn Daniel etwas zugestoßen war? Wenn er irgendwo festsaß und nicht wegkonnte? Quatsch, so was würde nicht eintreten. Als Vogel konnte er sich überall hin frei bewegen. Kaum eine Barriere würde ihn aufhalten. Was aber, wenn Cangoon sein Wort nicht hielte? Konnte er ja gar nicht, es sei denn, er ginge zu Fuß. Oder machte sich als Krähe auf den Weg … war seine Vampirrasse überhaupt fähig, zu fliegen? Wie auch immer, allzu weit weg von London käme er im Moment ohnehin nicht, eben so wenig, wie sie die Kraft hätte, bis nach Paris durchzustarten.
Was blieb? Sollte sie dem Wasserturm einen Besuch abstatten? Sich vergewissern, dass es Daniel gut ging? Zur Hölle! Nichts würde sie tun, außer jetzt fein in das Hotel zurückzukehren und morgen mit der nächsten Maschine nach Paris zu fliegen. Dieser vermaledeite Stromausfall konnte nicht ewig dauern.
Und wen kümmerte Daniel?
Emily presste den Schnabel zusammen, dass es knirschte. Genau das musste sie denken. Sich einhämmern. Immer und immer wieder.
Wen kümmerte Daniel?
1 Johann Wolfgang von Goethe, Faust
2 gleichermaßen
Tag 9
H
ollys batteriebetriebener Wecker klingelte, doch sie lag bereits seit einer ganzen Weile wach in ihrem Bett. Gestern Morgen um diese Zeit hatte sie sich noch an Daniels Brust gekuschelt, seine Nähe genossen, seinen männlichen und erotischen Duft ausgekostet. Sein Aftershave, süß und verlockend, frisch, mit einer leicht herben Note. Es passte zu ihm. Und wenn er seine Lederjacke anhatte, mischte es sich angenehm mit dem Aroma von Wildheit und Abenteuer. Sein blondes Haar, das ihm verwegen in die Stirn fiel, seine gekräuselten Lippen und die Fältchen in seinem Gesicht, wenn er lächelte. Seine Stimme, mal sinnlich heiser und rau, mal von wohlklingendem Bass. Obwohl es ihr noch immer unwirklich vorkam, dass gerade ihr das passierte, hatte sie beschlossen, sich nicht gegen die Emotionen zu wehren, sie aufzusaugen und zu
Weitere Kostenlose Bücher