Club Kalaschnikow
energisch und streng, aber sie liebte die kleine Olga sehr. VonBeruf war sie Schulinspektorin. Olga kannte Oma Iwa seit frühester Kindheit nur im klassischen blauen, schwarz gepaspelten Jerseykostüm und in weißer Bluse mit Schillerkragen. Kein Make-up, kein Schmuck. Ein schlichter Kurzhaarschnitt, flache Pumps.
Einmal im Jahr kamen die Eltern auf Urlaub. Dann wurde die stille Zweizimmerwohnung lebendig, füllte sich mit Musik, Gelächter, Geschenken, Gästen.
»Na, wen hast du denn im Kindergarten zum Freund oder zur Freundin?« fragte die Mutter, drückte Olgas hellbraunen Kopf an ihre Brust und küßte das zarte, engelhaft schöne Gesichtchen, die riesigen dunkelblauen Augen.
»Ich bin mit allen Mädchen und Jungen befreundet«, erwiderte das Kind.
»Aber wer ist denn dein bester Freund? Oder deine beste Freundin?«
»Meine besten Freunde sind Oma Iwa und Väterchen Lenin.«
»Welche Puppe möchtest du?« fragte der Vater im Spielzeuggeschäft.
»Ich spiele nicht mit Puppen. Sie sind nutzlos. Ich spiele nur mit nützlichen Spielsachen.«
»Und das wären?« fragte Hauptmann Guskow verblüfft.
»Buchstabenlotto, Holzbaukästen und Dias über Tiere.«
Der Vater kaufte Lottoschachteln und Diafilme.
»Olga, möchtest du ein Eis?«
»Eis ist ungesund. Davon bekommt man Halsschmerzen.«
»Eins darfst du, jetzt ist es ja warm«, redete der Vater ihr gut zu.
Sie widersprach nicht, biß vorsichtig winzig kleine Stückchen ab und ließ sie sorgfältig im Mund warm werden, bevor sie sie hinunterschluckte.
»Na, schmeckt’s?« fragte ihre Mutter.
»Danke, sehr lecker«, erwiderte das kleine Mädchen kopfnickend, ohne zu lächeln.
Auch auf dem Karussell und im Spiegelkabinett, wo die Erwachsenen sich ausschütten wollten vor Lachen, blieb das Kind ernst.
»Was habt ihr denn?« meinte Oma Iwa schulterzuckend abends in der Küche, während der Hauptmann nervös hin und her schritt und seine Frau am offenen Fenster rauchte und sich bemühte, ihre Mutter nicht anzublicken. »Das Kind hat eine feste Ordnung, es entwickelt sich gut, ohne Verzärtelung und andere Albernheiten. Olga kann schon nach Silben lesen, addieren und subtrahieren, sie bettelt nicht um Süßigkeiten und Spielsachen. Im Kindergarten hat sie zu allen gute kameradschaftliche Beziehungen, die Kindergärtnerinnen sind mit ihr zufrieden, es gibt keine Konflikte, keine Krankheiten und Erkältungen. Was wollt ihr denn noch? Wenn es euch nicht paßt, wie ich das Kind erziehe – bitte, nehmt es wieder mit, schleppt es durch eure Kasernen und Baracken.«
Die Eltern kochten vor Ärger, kühlten aber rasch wieder ab. Das Kind aus Moskau wegzuholen, aus dem warmen, sauberen Haus, wäre unvernünftig gewesen. In zwei Jahren kam es in die Schule. Und außerdem, Iwetta Tichonowna war ausgebildete Pädagogin, sie aber – was waren sie schon für Pädagogen?
Im Jahre 1979 brach der Afghanistankrieg aus. Am ersten September 1981 fuhr der Militärjeep, in dem Hauptmann Guskow und seine Frau saßen, bei Kandahar auf eine Mine und flog in die Luft.
Die siebenjährige Olga wurde mit weißem Schürzchen und drei roten Nelken in der Hand in die erste Klasse eingeschult. Erst einen Monat später erfuhr sie, daß sie keine Eltern mehr hatte. Sie konnte noch nicht begreifen, was das hieß, sie war noch zu klein, hatte Vater und Mutter zu selten gesehen und gar keine Zeit gehabt, sich an sie zu gewöhnen. Aber Oma Iwa weinte, und das war so seltsam und schrecklich, daß Olga wie von selbst die Tränen über die Wangen rollten.
Im zweiten Schuljahr hörte Olga, wie ein Mädchen aus der achten Klasse über sie sagte:
»Was für ein unglaublich schönes Kind!«
Abends kam Iwetta Tichonowna, um sie von der Hausaufgabenbetreuung abzuholen.
»Oma, bin ich schön?« fragte Olga.
»So ein Unfug!« schnaubte die Oma.
Auf dem Heimweg erzählte sie Olga ein altes Märchen der Jakuten von einem Mädchen mit dem sonderbaren Namen Ai-aga. Das Mädchen schaute sich den ganzen Tag in einem runden kupfernen Spiegel an und sprach zu sich: »Ai-aga ist schön.« Dann verwandelte sie sich in eine Ente, flog zum eisigen nördlichen Himmel empor, und in der Tundra hallte noch lange ihr kläglicher, schnatternder Schrei: »Ai-aga ist schön.«
»Schön zu sein ist also schlecht?« fragte Olga, als das Märchen zu Ende war.
»Es ist schlecht, darüber nachzudenken«, erwiderte die Oma, »es ist schlecht zu meinen, man sei etwas Besseres als andere.«
In der Schule hatte Olga nur
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