Club Kalaschnikow
Einsen. In den Pausen stand sie am Fenster und las. Man nannte sie Streberin und fand sie langweilig.
Als Olga vierzehn war, hörte sie von allen Seiten: ein erstaunlich schönes Mädchen. Neben ihren Altersgenossinnen, die die schwierige Zeit der Pubertät mit Pickeln, Unbeholfenheit und Minderwertigkeitskomplexen durchmachten, wirkte Olga Guskowa wie ein Wesen von einem anderen Planeten, märchenhaft schön, allen niedrigen irdischen Problemen entrückt.
Freunde hatte sie nicht. Sie hätte gern welche gehabt, aber es ergab sich nicht. Mit siebzehn diskutierte sie über den Agnostizismus Kants, über Neuhegelianer und Kierkegaard, träumte davon, in ein sibirisches Dorf zu fahren und die Bauernkinder zu unterrichten, irgendeine heiligeMission zu erfüllen, deren Wesen sie selber nicht richtig begreifen und formulieren konnte. Bald wollte sie sich für das Gute und die Gerechtigkeit aufopfern, die Menschheit beglücken und barmherzige Schwester irgendwo im hintersten choleraverseuchten Schwarzafrika werden, bald erörterte sie ganz ernsthaft die Notwendigkeit von Gewalt und Terrorismus, um das Böse in der Welt zu bekämpfen.
Nach der neunten Klasse beschloß sie, an der Universität Philosophie zu studieren. Die beiden ersten Prüfungen bestand sie mit »Eins«, zur dritten kam sie zu spät, zur vierten erschien sie überhaupt nicht mehr, weil sie beschlossen hatte, ins Gebiet von Wologda zu fahren, wo in der Nähe eines kleinen Klosters ein hundertjähriger Einsiedler lebte.
Iwetta Tichonowna durchlebte in dieser Zeit eine schwere persönliche Tragödie – ihre Pensionierung. Es kam ihr vor wie das Ende ihres Lebens, sie konnte sich nicht vorstellen, einfach nur eine alte Frau zu sein statt eine führende Kraft in der Volksbildung.
An die Universität ging Olga erst drei Jahre später. Bis dahin arbeitete sie in einer Bibliothek, reiste von Kloster zu Kloster und lebte weiter in ihrer eigenen komplizierten, seltsamen Welt, in der sich die Orthodoxie mit dem Zen-Buddhismus verwob, der alte Chinese Konfuzius friedlich mit Nikolai Berdjajew diskutierte, die Strumpfhosen immer zerrissen waren, die Pullover Fäden zogen, die Schuhe nicht wasserdicht waren, die dunkelblau-violetten Augen aber in einem geheimnisvollen kosmischen Licht strahlten.
Mit der Krankheit ihrer Oma brach die rauhe Wirklichkeit in diese verworrene, schwer verständliche, aber im großen und ganzen glückliche Welt ein. Plötzlich mußte Olga wichtige Entscheidungen treffen, Alltagskram erledigen, viel Ausdauer und kolossale Geduld aufbringen und auch Geld heranschaffen.
Ihr fiel nichts Besseres ein, als die Zweizimmerwohnunggegen eine Einzimmerwohnung einzutauschen. Man erklärte ihr, der Altersschwachsinn sei nicht heilbar und schreite immer weiter voran, bald werde sie mit der Oma nicht mehr allein fertig werden.
Sie beschloß, für das Geld vom Wohnungstausch eine freundliche Frau einzustellen, die für die Oma sorgen sollte, damit sie selber in Ruhe ihr Studium beenden konnte. Doch eine solche Frau war nicht aufzutreiben, und das Geld war im Handumdrehen aufgebraucht.
Irgendwie schaffte sie es trotzdem, über die Runden zu kommen. Sie verdiente sich neben dem Studium etwas Geld – mal als Putzfrau, mal als Briefträgerin. Es waren nur Kopeken, aber mehr konnte Olga nicht erwarten. Ihre Kommilitonen standen nachts im Kiosk und verkauften abends in der Metro Zeitungen. Bei Olga rief schon das bloße Wort »Handel« Übelkeit hervor.
Ein Jahr verging. Olga hatte sich damit abgefunden, daß die Oma krank war und niemals wieder gesund werden würde. Doch da brach ein anderes Unglück über sie herein: Olga Guskowa verliebte sich.
Wenn eine dreiundzwanzigjährige Philosophiestudentin mit einem Bändchen Nietzsche und einem orthodoxen Gebetbuch in ihrem schäbigen Rucksack; in Jeans, die an den Knien zerrissen sind, nicht weil das modisch, sondern weil es ihr völlig egal ist; wenn ein Mädchen mit dem Gesicht einer Märchenprinzessin, der Seele einer Nonne und dem Geist einer Revolutionärin und Anarchistin – wenn ein solches Geschöpf sich zum ersten Mal im Leben verliebt, noch dazu in einen verheirateten, reichen und leichtsinnigen Mann, dann ist das wirklich eine Katastrophe.
***
»Reden Sie schon, ich höre«, seufzte Katja müde, »wahrscheinlich fällt Ihnen jetzt auch nichts mehr ein. Alles ist vorbei, Gleb ist tot.«
Sie wollte ihr Handy schon ausschalten, aber da hörte sie die leise Männerstimme:
»Entschuldige, ich bin
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