Club Noir - 1
mehr so sicher! Wie sollte sie ihm ihr Handeln erklären, geschweige denn entschuldigen? Sie sah sich bereits vor ihm stehen, ohne dabei ein Wort über die Lippen zu bringen. Sie war vor einem Mann davongelaufen. Sie hatte gesehen, wie er das Blut einer Frau getrunken hatte. Und nun glaubte sie, ihr Geliebter würde nach ihrem Leben trachten. Wie irrsinnig diese Erklärungen klangen!
Jesse massierte sich die Schläfen. Ihr Kopf begann bedrohlich zu dröhnen. Sie wollte nur noch fliehen – am liebsten aus ihrem eigenen Körper. Aber es würde alles nichts helfen! Schnell wusch sie sich und zog sich frische Kleidung über. Sie wollte keine Zeit verlieren und das unangenehme Gespräch mit Mr. Lowman unnötig aufschieben.
Äußerlich wirkte Mr. Lowman ruhig und gefasst. In seinem Inneren brodelte es jedoch. Er musste sich sehr zusammennehmen, um nicht sofort wütend loszupoltern. Mit einem Ruck, viel heftiger als beabsichtigt, richtete er sich auf und bot Jesse einen Platz vor seinem Schreibtisch an.
„Bitte, setzen Sie sich doch.“
„Danke.“
Jesse ließ sich auf den Stuhl sinken. Sie fühlte sich elend und genau diesen Eindruck vermittelte sie auch. Ihr gesenkter Blick war auf ihre Finger geheftet, die sich wie zum Gebet auf ihren Oberschenkeln ineinander legten.
„Bitte keine Kündigung“, ging es ihr immer und immer wieder durch den Kopf.
Mr. Lowman setzte sich zurück in den ledernen Bürosessel, der beinahe doppelt so breit war wie die schmale, von Stress verzehrte Gestalt des Geschäftsführers. Räuspernd rückte er seine Brille zurecht. Er griff nach einer Akte und schlug sie auf, nur um sie im nächsten Augenblick wieder zu schließen. Der Aufruhr in seinem Inneren ergriff allmählich auch von seiner äußeren Erscheinung Besitz.
„Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden, Miss Brown“, begann er. „Madame Demier rief mich heute früh an. Sie teilte mir mit, dass Sie sich bei der Galerie nicht einmal abgemeldet haben. Nur der Hotelmanager wusste anscheinend von Ihrer Rückkehr nach London. Sie können sich sicher vorstellen, dass ich darüber nicht begeistert bin.“
Nervös knetete Jesse ihre Finger. „Es tut mir Leid. Es gab einen Notfall“, log sie, ohne zu wissen, wie sie sich da wieder herausreden sollte.
„Ein Notfall also“, wiederholte er.
„Ja, meine Mutter. Sie ist … krank, müssen Sie wissen. Ich wollte Sie wirklich nicht enttäuschen.“ Jesse kam sich wie eine Kriminelle vor. Ihr Arbeitgeber zog sie geradewegs in ein Verhör, mit dem einzigen Ziel, die Wahrheit aus ihr herauszupressen. Aber wer glaubte ihr die tatsächlichen Ereignisse schon? Blut trinkende Männer. Wilde Orgien. Von ihrer leichtsinnigen Affäre mit Andrew ganz zu schweigen.
„Miss Brown, was haben Sie sich nur dabei gedacht? Unsere Galerie hat sich auf Sie verlassen. ICH habe mich auf Sie verlassen. Wie soll ich das dem Künstler erklären – und vor allem unseren Freunden in Brüssel? Unsere erste Ausstellung dort …“ Er seufzte vorwurfsvoll.
„Ich … es tut mir Leid.“ Jesse hasste sich selbst für den weinerlichen Unterton in ihrer Stimme. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie schaffte es nicht, sich dagegen zu wehren.
„Sie werden die nächste Maschine nach Brüssel nehmen und die Angelegenheit in Ordnung bringen.“
„Aber …“
„Das sind Sie unserem Unternehmen und dem Künstler schuldig!“
„Aber, Mr. Lowman, ich kann nicht …“
„Es ist mir vollkommen egal, welche familiären Schwierigkeiten Sie haben.“ Seine Gesichtszüge verhärteten sich. Die Wut brach aus ihm heraus und spiegelte sich nun in seinen Augen wieder. „Haben Sie überhaupt eine Vorstellung, welchen Verlust uns eine abgebrochene Ausstellung einbringt? Wir müssen das Ansehen unseres Hauses wahren. Sie werden sich darum kümmern, dass unser Ruf nicht in den Schmutz gezogen wird. Oder ich werde mich darum kümmern, dass Sie nie wieder einen Fuß in irgendeine Galerie setzen.“
Jesse zuckte zusammen. So hatte sie Mr. Lowman noch nie erlebt. Ihr blieb keine Wahl. Sie musste sich seiner Forderung unterwerfen.
„Natürlich“, gab sie leise zur Antwort. „Ich werde die Angelegenheit wieder in Ordnung bringen.“ Mit hängendem Kopf verließ sie das Büro von Mr. Lowman. Wie sollte sie sich aus dieser Lage nur wieder hinausmanövrieren? Sie hatte keine Ahnung! Um keinen Preis wollte sie zurück nach Brüssel. Dort schien ihr das Unheil wie eine wilde Bestie aufzulauern. In London bleiben und
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