Club Noir - 1
das Schaufenster. Aber Louis blieb verschwunden.
Vielleicht eine Halluzination, redete sie sich ein. Ganz sicher sogar. Sie hatte die Erlebnisse der letzten Tage bisher nicht verarbeiten können. Ihre Verdrängungstaktik hatte nun wahrscheinlich dazu geführt, dass sie umso heftiger von den Bildern der Erinnerung heimgesucht wurde.
Sie schüttelte sich.
Es musste einen Weg geben, das alles möglichst schnell zu vergessen. Sie wusste nur noch nicht welchen.
Vorerst würde sie nach Hause gehen und sich ein heißes, entspannendes Bad gönnen.
Jesse vergaß das furchteinflößende Erlebnis vor dem Schmuckgeschäft schnell. Als sie wieder in ihrer Wohnung war, ließ sie heißes Wasser in die Wanne laufen. Sie gab Öle in das dampfende Bad hinzu. Mühsam verdrängte sie die Gedanken an Andrews Räumlichkeiten im Club, sein exklusives Badezimmer und ihre Erlebnisse darin. Sie konzentrierte sich ganz auf sich selbst, streifte die Kleidung bewusst langsam ab und steckte die Haare mit einer großen Spange auf ihrem Oberkopf fest. Dann ließ sie sich in die Wanne gleiten. Die angenehme Wärme umfing sie, hüllte sie vollständig ein. Beruhigend legten sich die Düfte auf ihre Sinne. Jesse schloss die Augen und entspannte sich. Alle negativen Einflüsse fielen von ihr ab. Einzig die Geborgenheit blieb zurück. Das Wasser streichelte samtig über ihre Haut. Ein Moment von unschätzbarem Wert.
Jesse musste sich in ihm verloren haben, denn ihr Bewusstsein kehrte erst wieder zurück, als sie zu frösteln begann. Das Wasser hatte sich abgekühlt. Schnell richtete sie sich auf und ließ es abfließen. Sie griff nach einem Handtuch, wickelte sich darin ein und knotete den flauschigen Stoff über ihrer Brust zusammen.
Wie viel Zeit war vergangen?
Sie ging hinüber in ihr Wohnzimmer und blickte aus dem Fenster. Es war noch heller Tag. Ihre Befürchtung, der Abend könne bereits anbrechen, zerschlug sich. Sie verdrängte ihre aufkeimende Angst vor der Dunkelheit. Stattdessen suchte sie nach dem Reiseführer über Brüssel. Wie sie richtig vermutet hatte, steckte er noch in der Seitentasche ihres Koffers. Zunächst blätterte sie die Seiten voller Unlust durch. Ohne weiter zu grübeln ging sie als nächstes zum Telefon und ließ sich von der Auskunft mit dem Flughafen verbinden. Sie erkundigte sich nach einem Brüsseler Flug.
„Morgen früh, 10.35 Uhr hätte ich etwas für Sie. Oder lieber nachmittags?“
„Nein“, entschied Jesse. „10.35 Uhr ist mir recht.“
Nachdem sie dies erledigt hatte, trocknete sie sich ab und schlüpfte in einen bequemen Hausanzug. „Schon besser“, flüsterte sie, während sie auf ihr Sofa sank. Sie stellte den Fernseher an, um gegen die unerträglich werdende Stille anzukämpfen. Dann nahm sie erneut den Reiseführer zur Hand und suchte nach Übernachtungsmöglichkeiten. Das Gebäude sollte möglichst weit vom „Club Noir“ entfernt liegen. Zwar wäre es somit etwas umständlicher die Galerie jeden Morgen zu erreichen, aber das nähme sie in Kauf. Sie wollte sich nicht in der Nähe von Andrew und seinen merkwürdigen nächtlichen Geschäften wissen. In dem Führer fand sie mehrere Hotels, die sie sich auf einem Zettel notierte. Gleich nach ihrer Ankunft in Brüssel würde sie sich für eines davon entscheiden.
Als nächstes widmete sich Jesse ihrem Koffer. Die Kleidungsstücke lagen grauenhaft durcheinander und waren zerknittert. Sie hob die Bluse hoch, die sie an ihrem ersten Abend im Club getragen hatte. Zwei Knöpfe hingen noch daran. Der Stoff war an einer Stelle eingerissen. Jesse hatte diese Bluse immer sehr gerne getragen. Nun aber war sie ruiniert und untrennbar mit einer unliebsamen Erinnerung behaftet. Kurzerhand wanderte sie in den Müll.
Jesse tauschte den Inhalt des Koffers gegen neue, frische Kleidung aus. Sie drückte die Kofferverschlüsse zu und stellte ihr Gepäck abfahrbereit in den Flur. Als sie nun einen erneuten Blick aus dem Wohnzimmer warf, schien ihr der Tag nicht mehr so hell entgegen. Es dämmerte. Dunkle Wolken schoben sich über den Himmel. Eine entsetzliche Kälte legte sich auf Jesses Gemüt.
Die Zeiger ihrer Uhr wanderten bereits auf Mitternacht zu, als Jesse plötzlich ein Geräusch an ihrer Wohnungstür hörte. Sie richtete sich auf. Lauschte angespannt. Doch schon im nächsten Augenblick herrschte wieder vollkommene Stille.
Hatte sie sich das gerade nur eingebildet?
Nervös stand sie auf. Sie schaltete überall in der Wohnung Licht an, untersuchte jeden
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