Club Noir - 1
mit Jesse? Sag schon – oder muss ich erst andere Methoden anwenden, um es aus dir herauszubekommen?“
Michelle ließ die Schultern hängen. Ohne es zu wollen hatte Andrew gerade seine wahren Gefühle für Jesse bekundet. Auch, wenn er sie selbst bislang nicht anerkennen wollte. Michelle hatte verloren – wurde ausgestochen von einer Frau, die sich nie mit dem Club-Leben angefreundet hatte und es wohl auch in Zukunft nicht tun würde. Sie seufzte schwer, als sie ihm nun abermals in die Augen blickte. Hass und Besorgnis paarten sich darin. Es musste ihm schwer fallen, seine Gefühle im Zaum zu halten.
„Louis …“, begann Michelle leise, brach jedoch sofort ab. Sie fürchtete sich so sehr, die Wahrheit über die Lippen zu bringen. Schritt um Schritt wich sie zurück, als würde sie sich bereits auf ihre Flucht vorbereiten.
„Was ist mit Louis?“
„Er hat …“ Sie räusperte sich, blickte sich nervös im Raum um. Er würde sie doch nicht hören können? „Der Geheimgang. Louis hat ihn für Jesse freigegeben. Er ist dafür verantwortlich, dass sie jetzt die Wahrheit kennt.“
Diese Offenbarung überraschte Andrew nicht im Geringsten. Schon vom ersten Moment an vermutete er, dass Louis seine Finger im Spiel gehabt hatte. Aber das war noch nicht alles. Michelle fuhr fort. Sie rang um jedes Wort, das sie nun sprach.
„Er will sich an dir rächen. Er sagte, du hättest ihm Unrecht getan. Wegen dieser Jesse.“
Andrew erinnerte sich an den Abend, an dem Louis sich gewaltsam an Jesse hatte vergreifen wollen. Er stieß einen verächtlichen Laut aus.
„Er ist ihr gefolgt. Nach London.“
„Wann?“ Jetzt glitzerten Andrews Augen gefährlicher auf, als Michelle es je zuvor gesehen hatte.
„Gestern schon. Gleich, nachdem du …“ Ihr versagte die Sprache. Sie fühlte die Wut des Vampirs auf sich einpeitschen. Hilflos hob sie die Hände über ihren Kopf, einen vermeintlichen Angriff abwehrend. Doch Andrew berührte sie nicht einmal mit dem kleinen Finger. Er streifte sie lediglich und schritt ungehalten durch den Raum. Ruhelos. Wild. Voller Vergeltungssucht.
Londen
Zurück in ihrer Heimatstadt fühlte Jesse eine unglaublich schwere Last von ihren Schultern fallen. Sie hatte Glück gehabt und innerhalb kürzester Zeit einen Flug nach London ergattert. Dennoch spürte sie bis zuletzt einen grauenhaften Schatten in ihrem Nacken sitzen. Einen Verfolger, der sich nicht abschütteln lassen wollte. Erst als sie am Londoner Flughafen angekommen in ein Taxi stieg, das sie zu ihrer kleinen Wohnung brachte, schien sich auch diese Bedrohung aufzulösen – verschwand einfach mit den ersten Strahlen der Morgensonne.
Jesse nahm die vertraute Umgebung ganz bewusst in sich auf. Tief sog sie die Luft ein. Sie roch nach Menschen, Schweiß, Autos – doch nicht zuletzt auch nach Lebensfreude. Nach Großstadt. Nach London.
Glücklich drückte sie dem Taxifahrer sein verdientes Geld in die Hand. Er lächelte, nachdem er die junge hübsche Frau eingehend gemustert hatte. Dann wandte er sich ab und fuhr fröhlich pfeifend davon.
Jesse war so unsagbar glücklich und erleichtert, sich wieder in ihrer geliebten Heimatstadt zu wissen, dass sie hätte jubeln können. Keine Gefahr oder unheimliche Erlebnisse gingen von dort aus. Alles schien so viel friedlicher zu sein. Beinahe zu friedlich, gestand sie sich mürrisch ein. Wie sehr wünschte sie sich einen Mann an ihre Seite, der sie nun mit offenen Armen zu Hause willkommen heißen konnte! Doch nichts als kalte Leere schlug ihr aus ihrer Wohnung entgegen. Der Gedanke an Andrew schmerzte sie.
Wehmütig hievte sie ihr Gepäck in den Flur hinein. Sie durchstreifte die Räume, kontrollierte alles peinlich genau. Nichts hatte sich verändert. Nichts – bis auf ein stummes Aufleuchten der Digitalanzeige ihres Anrufbeantworters.
Jesse drückte sogleich auf den Knopf zum Abspielen. Für einen kurzen Augenblick hoffte sie darauf, Andrews Stimme zu hören, schob diesen Gedanken allerdings gleich wieder beiseite. Wie albern sie doch sein konnte!
„Lowman hier“, erklang die tiefe, eindringliche Stimme ihres Arbeitsgebers. „Ich erwarte Sie in meinem Büro. Unverzüglich!“
Jesse sank in sich zusammen. Sie hatte die Tatsachen verdrängt. Ihre überstürzte Flucht aus Brüssel würde berufliche Konsequenzen nach sich ziehen. Vor wenigen Stunden war sie noch der festen Überzeugung gewesen, ihr Arbeitgeber würde ihr Verständnis entgegen bringen. Nun war sie sich da aber gar nicht
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