Club Noir - 1
spürte die angenehme Nähe, auf die sie schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Von seiner Ausstrahlung überwältig ergab sie sich ihm. Ihre Zungenspitze umkreiste das Blut, nahm die ersten Tropfen zaghaft auf. Doch dann schlossen sich ihre Lippen gänzlich um die Wunde und saugten. Das Leben kehrte mit dem heilsamen Blutschwall in ihren Körper zurück. Es erfüllte sie mit neuer Kraft, die sie im Laufe der nächsten Stunden gesunden lassen würde.
Andrew gab ihr nur so viel zu trinken, um ihr Überleben zu sichern. Die Verwandlung würde noch nicht erfolgen. Erste Spuren in ihren Wahrnehmungen ließen sich nicht vermeiden, doch sie tauchte noch nicht vollkommen in die Dunkelheit des Vampir-Daseins ein. Jeder andere an seiner Stelle hätte vermutlich die Gelegenheit genutzt, um sie zu seiner unsterblichen und ewigen Gefährtin zu machen.
Er nicht.
Er konnte es nicht über sich bringen, ihr die Entscheidung komplett zu entziehen. Sie sollte ihm freiwillig folgen. Ob ihm dieses Glück allerdings vergönnt war – darauf konnte er nur hoffen.
Flammende Gefühle
Andrew blieb noch eine Weile schweigend an Jesses Seite. Er folgte seinen Gefühlen und legte sich kurz neben sie. Sein Arm wanderte vorsichtig über ihre Taille. Sanft massierte er mit einer Hand ihren Rücken. Sie seufzte im Schlaf. Ob sie seine Berührungen tatsächlich spürte, vermochte er nicht zu sagen. Doch es beruhigte ihn.
Er hätte bis zum Morgen dort verweilen können. Nicht einmal sein Durst nach Blut wurde übermächtig genug, um ihn aus ihrer Nähe zu treiben. Ein Empfinden voller Glück füllte ihn aus. Er konnte noch nicht ganz glauben, dass die Gefahr gebannt und Jesse gerettet war.
Schließlich musste Andrew sie doch für kurze Zeit verlassen. Er hauchte einen Kuss auf ihre Stirn, bevor er sich erhob und die Tür zu ihrem Schlafzimmer von außen schloss. Der Anblick des leblosen Körpers von Louis empfing ihn erneut. Allerdings würde er nicht mehr lange dort sein. Bereits jetzt hatte der Verwesungsprozess eingesetzt und die Haut stellenweise zerfressen. Er würde sich Stück um Stück ins Nichts auflösen. Die Haare von Louis waren ergraut und teils ausgefallen. Seine Glieder fielen wie ausgetrocknet ineinander. Bald würde nur noch Asche von ihm übrig bleiben. Die aufgehende Morgensonne würde den Rest besorgen und die Welt von diesem Vampir unwiderruflich befreien. Bevor der Körper, der ein Stück weit aus dem Fensterrahmen herausragte, von irgendjemand entdeckt werden könnte, wäre er längst Vergangenheit. Dafür war die Nacht zu dunkel und die Wohnung lag zu hoch.
Andrew rückte lediglich den Sessel an seinen Platz zurück, bevor er sich für diese Nacht aus Jesses Wohnung entfernte. Er hinterließ eine Nachricht in Form eines Briefes, den er unter der Wohnungstür des Hausmeisters durchschob. Darin schrieb er, dass ein unglückliches Missgeschick das Fenster in Jesses Wohnung zerstört habe. Sie selbst läge krank im Bett und sei nicht in der Lage, sich um die Reparatur zu kümmern. Dazu legte er ausreichend Geld, um für den Schaden und das Schweigen zu bezahlen. Er vertraute darauf, dass der Hausmeister ein ehrlicher Mann war und die Angelegenheit erledigte, ehe Jesse aus ihrem erholsamen Schlaf erwachen würde. Andrew würde in der kommenden Nacht zurückkehren und sich davon überzeugen. Jesse musste lange ruhen. Das wusste er. So blieb ihm genügend Zeit, noch eine weitere Aufgabe zu erledigen.
Jesse erwachte mit ungeahntem Elan. Ihre Glieder fühlten sich viel stärker an, als sie vermutete, denn die letzte Erinnerung, die sie hatte, war eine lähmende Schwäche gewesen. Sie hatte in ihrer Küche gefesselt auf einem Stuhl gesessen. Das schien bereits unendlich lange zurückzuliegen, weil sie sonst an ihren Handgelenken Abdrücke des festen Stricks hätte finden müssen. Doch sie entdeckte keine Spur davon.
Ein einigermaßen funktionierendes Zeitgefühl fehlte ihr ebenfalls. Sie fragte sich, welcher Tag es war. Ihr Kalenderblatt an der Wand zeigte lediglich eine Seite mit sämtlichen Tagen des Monats. Wie sollte sie auf diese Weise erfahren, an welchem genau sie gerade aufgewacht war? Doch gleichgültig wischte sie den Gedanken beiseite.
Sie wurde sich ihrer trockenen Kehle bewusst, stand auf und wollte in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Dabei stellte sie fest, wie wackelig sie auf den Beinen war. Sie tastete sich von ihrem Bett zu dem Türrahmen vor und setzte langsam und bedächtig einen Fuß vor
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