Cobra
der jungen Geschichte der Cobra-Welten nicht wegzudenken, einer der wenigen Namen, die praktisch jeder auf Aventine von klein auf kannte. Um ihn makellos zu halten, hatte sein Vater gegen Challinor und seine Rebellen gekämpft und sich danach so viele Jahre um die Neugestaltung der aventinischen Politik bemüht. Und es war eins der wenigen Dinge von Wert, die Corwin an seine Nichten und – sollte er tatsächlich irgendwann noch selbst welche haben – seine eigenen Kinder weitergeben konnte. Die Vorstellung, Priesly könnte seine schmutzigen Hände … »Wenn er das versucht, wird es ihm leidtun«, erwiderte Corwin ruhig. »Nennen Sie es eine Warnung, nennen Sie es eine Tatsachenfeststellung, aber sorgen Sie dafür, dass er das begreift.«
Chandler nickte. »Ich werde es versuchen. Ich wollte bloß, dass Sie verstehen, worum es eigentlich geht. Wie auch immer … ich sollte Sie jetzt wahrscheinlich gehen lassen. Sie werden es verständlicherweise Ihrem Bruder heute Abend mitteilen wollen.«
»Das werde ich«, seufzte Corwin. »Auf Wiedersehen, Sir … und danke.«
Der Generalgouverneur warf ihm ein grimmiges Lächeln zu und verschwand vom Bildschirm.
Eine ganze Weile saß Corwin einfach nur da und starrte mit leerem Blick auf den Monitor. Priesly hatte sich also nicht damit zufriedengegeben, Corwins Familie in eine peinliche Lage zu bringen, er wollte stattdessen wirklich Blut sehen. Gut, wenn er einen Kampf will, dachte er voller Bitterkeit, kann er einen Kampf bekommen. Und Corwin war bereits beträchtlich länger in der Politik als Priesly. Irgendwie würde er einen Weg finden, den Spieß gegen den Ject umzudrehen.
Irgendwie.
Er seufzte, schob den Gedanken so weit wie möglich von sich und stand auf. Schließlich war er auf dem Weg zu einer Party und sollte sich wenigstens nach außen hin den Anschein von Fröhlichkeit geben. Ob ihm danach zumute war oder nicht.
Die roten Strahlen der untergehenden Sonne verblassten am frühabendlichen dunklen Frühlingshimmel über Capitalia, als Jin mit ihrem Wagen vorfuhr und ausstieg. Einen Augenblick blieb sie einfach in der Abenddämmerung stehen, betrachtete das Haus und fragte sich, wieso es ihr jetzt so anders vorkam als in ihrer Kindheit. Bestimmt lag es nicht einfach daran, dass sie vier Wochen fort gewesen war – das war ja nicht zum ersten Mal der Fall. Nein, das Haus hatte sich nicht verändert, sie war es, die sich verändert hatte. Das Heim ihrer Kindheit … aber sie war kein Kind mehr. Sie war eine Erwachsene.
Eine Erwachsene und eine Cobra.
Fast automatisch nahm sie eine Folge von Einstellungen an ihrem optischen Verstärker vor, während sie auf das Haus zuging, und entdeckte dabei Dinge an dem Gebäude und dem Grundstück, die ihr früher niemals aufgefallen waren. Der Infrarotscanner zeigte ein unbedeutendes Wärmeleck in der Ecke ihres Schlafzimmers – kein Wunder, dass ihr das Zimmer im Winter immer kälter als der Rest des Hauses vorgekommen war. Die teleskopische Vergrößerung zeigte ihr feine Risse in der angeblich unverwüstlichen Verkleidung, und eine teleskopisch/ lichtverstärkte Untersuchung eines Astlochs in der hohen Boresche trug ihr den neugierigen Blick aus strahlend hellen Tieraugen ein, die sich dort versteckten. Erinnerungen an die Vergangenheit, Gedanken an die Zukunft – all das verschmolz mit den Tatsachen der Gegenwart. Der Tatsache, dass sie gegen alle Wahrscheinlichkeit ihr Lebensziel erreicht hatte.
Sie war eine Cobra.
Das Geräusch eines anhaltenden Wagens hinter ihr schlich sich in ihr Bewusstsein, und sie drehte sich in der Erwartung um, einen ihrer Onkel vorfahren zu sehen.
Es war Mander Sun.
»He! Jin!«, rief er und schob seinen Kopf aus dem Fenster. »Warte mal einen Augenblick.«
Sie ging zurück und überquerte die Straße, als er auf der anderen Seite hielt. »Was gibt’s?«, fragte sie und erkannte zu spät den harten Zug um seinen Mund. »Stimmt was nicht?«
»Ich weiß nicht.« Er musterte ihr Gesicht. »Vielleicht ist es nur ein Gerücht … hör zu, heute Nachmittag habe ich von einem Freund meines Vaters, der in der Datenabteilung des Direktorats arbeitet, etwas läuten hören. Weißt du, warum man deiner Aufnahme in die Akademie zugestimmt hat?«
Jin dachte an die offensichtlichen – die offiziellen – Gründe. »Ich weiß nur, was man mir gesagt hat. Was hast du gehört?«
»Dass es eine ziemlich abgekartete Sache war«, brummte er. »Dein Onkel – der Gouverneur – habe seine
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