Coco Chanel & Igor Strawinsky
Misia.
»Ach, hört doch auf, ihr zwei!« Sie ballt eine Faust und lockert sie wieder. »Er arbeitet schon an meinen Mustern.«
»Es ist dein Geld«, sagt Adrienne widerstrebend.
»Es geht mir nicht ums Geld«, sinniert Coco, »sondern um Unabhängigkeit.«
»So etwas lernt man bei Ehemann Nummer drei!«, ergänzt Misia.
Resignation lässt Adriennes Stimme etwas gepresst klingen. »Vermutlich.«
»Dann lasst uns darauf trinken«, schlägt Coco vor. »Auf uns.«
»Auf dein Parfüm.«
»Auf dein Geld.«
»Und auf unsere Unabhängigkeit«, schließt Coco. Die drei Frauen heben ihre Gläser ins Licht und stoßen klirrend miteinander an.
Kapitel 10
EINEN TAG NACH ihrer Rückkehr aus Paris lädt Coco Igor zu einem Waldspaziergang ein. Der Himmel über ihren Köpfen ist weit und blau. In der Ferne erstrecken sich mit Klatschmohn gesprenkelte Weizenfelder, dazwischen erhebt sich ein Kirchturm.
Sie machen eine Pause, setzen sich ins Gras und lehnen sich mit dem Rücken an eine Zeder. Der Geruch des Baums erinnert Coco an frisch gespitzte Bleistifte. Rings um sie herum zirpen aufgeregte Grillen.
»Ich wünschte, ich könnte ein Instrument spielen«, klagt sie.
»Aber Sie können singen«, entgegnet Igor.
»Wie eine Krähe.«
»Das ist nicht wahr.«
Er erzählt ihr von einer Sopranistin, die mit dem Singen aufhörte, weil der Klang ihrer eigenen Stimme sie zum Weinen brachte.
»Das ist doch lächerlich!«, sagt sie.
»Warum?«
»Es ist so affektiert.«
»Ich fand es romantisch.«
»Sentimental. Das ist nicht das Gleiche.«
»Ich dachte, es würde Ihnen gefallen.«
»Da haben Sie sich geirrt«, entgegnet sie ohne Umschweife.
Sie bringt ihn wie niemand sonst dazu, sich klein zu fühlen. Vielleicht, überlegt er, liegt es daran, dass ihm wichtig ist, was sie denkt.
Coco zieht es vor, über nüchternere Themen zu reden: die Höhe ihrer Steuern, die Zinsen, die die Bank von ihr verlangt, die unaufhörlich steigenden Lohnkosten. In Igors Abscheu gegen die Bolschewiken erkennt sie ein Echo ihres eigenen Ärgers über die mehr Rechte einfordernden Arbeiter. Nachdem sie sich ganz allein aus dem Sumpf hochgearbeitet hat, ist sie nicht gewillt, anderen eine helfende Hand zu reichen. Wer talentiert genug ist, wird es schon zu etwas bringen, das ist ihr Standpunkt.
Unvermittelt steht sie auf und geht entschlossen auf einen Obstgarten zu. Bald darauf ist sie wieder zurück, ihre Augen funkeln, und in der Hand hält sie zwei kleine, fleckige Äpfel. »Bitte.« Sie bietet Igor den appetitlicher aussehenden Apfel an und reibt ihren eigenen an ihrer Brust blank. Sie dreht den Stiel ab und beißt herzhaft hinein.
Igor lässt sich zurück gegen den Baum sinken und schließt die Augen. Die Sonne auf seinem Gesicht schenkt ihm neuen Auftrieb. Die Welt ist gut, denkt er. Plötzlich verschmelzen das Summen der Insekten, das Sonnenlicht und das Knacken des Apfels in seinem Kopf zu einem einzigen Akkord. »Gut«, sagt er laut.
Er sieht Coco an. Er ist fasziniert von dieser Frau, die stets alles unter Kontrolle hat. Sie bewältigt nicht nur die üblichen Alltagsprobleme, sondern scheint auch in der Lage zu sein, ihr eigenes Schicksal zu gestalten, kurzum, sie hat ihr Leben im Griff. Sie ist voller Vitalität und Stärke, das gefällt ihm. Ganz anders als Jekaterina, bemerkt er unwillkürlich. Und außerdem ist sie klug und schön. Sie verwirrt ihn, keine Frage, und sein Körper wird mit einem Mal von einer starken animalischen Anziehung erfasst. Seit Wochen hat er nicht mehr mit seiner Frau geschlafen. Eine süße Schwere schwillt in seinen Lenden an.
Bisher hat er anderen Frauen immer widerstanden, doch jetzt wird die Versuchung beinahe übermächtig. Er wendet ihr den Kopf zu und sieht sie im Sonnenlicht dasitzen. Plötzlich verspürt er den Drang, die Hand auszustrecken und sie zu berühren, ihr seine Gefühle zu beweisen und ihrer Kühnheit etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen. Er sitzt so dicht neben ihr, dass er die Poren an ihrer Nase erkennen kann. Er spürt, wie die Schleier des harmlosen Flirts vor einem rohen Trieb, einem blinden Verlangen zerreißen. Seine Finger verkrampfen sich. Instinktiv bewegt sich sein Körper auf sie zu.
Doch aus Angst, eine trügerische Verzerrung der Perspektive ließe sie näher erscheinen, als sie tatsächlich ist, schreckt er sofort wieder zurück. Der Augenblick ist verloren. Sie schwebt außer Reichweite.
Der nördliche Puritaner in ihm hat ihn zurückgezogen. Er hasst diese
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