Coco Chanel & Igor Strawinsky
ihm auch nichts ausmachen, aber das tut es. Er fühlt sich zurückgestoßen, und das schmerzt ihn. Das Fehlen körperlicher Liebe brennt ein Loch in sein Inneres. Er spürt eine Anspannung, die verzweifelt nach Erlösung drängt.
Nachdem er sie ein letztes Mal zärtlich an sich gedrückt hat, entlässt er sie aus seinen Armen. In diesem Moment erfasst sie ein Windstoß von der Seite, und sie wankt. Halt suchend greift sie nach dem Geländer. Er denkt an Coco, daran, wie belebend sie den Wind fände, wie sie seine Energie einfach anzapfen und in sich aufnehmen würde. Ihr Bild schiebt sich vor sein geistiges Auge: ihr dunkles Haar, ihre schwarzen Augen und ihr glühender Mund, dieses breite Lächeln. Mit dem Gedanken an sie sieht er seine Frau an. Im Geiste versucht er, die beiden Bilder übereinanderzulegen, doch so sehr er sich auch bemüht, sie passen nicht zusammen. Sie sind zu unterschiedlich, falsch ausgerichtet. Weiße Taste und schwarze Taste. Zusammen klingen sie falsch.
Als Jekaterina hineingeht, bleibt Igor draußen auf dem Balkon zurück. Er blickt zum Sternenhimmel auf, lauscht dem Sirren der Insekten, atmet den Duft der Nachtblumen. Das Wort lässt ihm immer noch keine Ruhe: romantisch, denkt er.
Sonntag. Die Strawinskys sind in der Kirche, und Coco stöbert in Igors Arbeitszimmer herum.
Sie betritt den Raum voller Respekt und mit einer diffusen Furcht. Während sie sich aufmerksam umsieht, rechnet sie beinahe damit, dass er gleich hereinstürmt und ihr Vorwürfe macht, weil sie seine Privatsphäre verletzt. Sie lässt die Tür angelehnt, um notfalls fliehen zu können. Jeden Schritt empfindet sie als Übertreten einer Grenze. Dieses Eindringen
hat etwas Intimes. Etwas Verehrendes, aber gleichzeitig auch Räuberisches.
Sie geht auf Igors Schreibtisch zu und berührt die Tintenfläschchen, Radiergummis, Stifte und Lineale - lauter Gegenstände, die dadurch kostbar werden, dass sie ihm gehören. Sie öffnet sein Brillenetui und zuckt zusammen, als es jäh wieder zuklappt. Sie hält seine Lupe über den Tisch und sieht unter dem Glas seltsam verkrümmte, geschwollene Gegenstände. Für einen Moment scheint die Struktur aller Dinge bloß zu liegen - die Fasern des Manuskriptpapiers, ein Wasserzeichen. Eine Stimmgabel wölbt sich unter ihrem zyklopischen Auge.
Mit dem erregenden Gefühl, das letzte Verbot zu übertreten, tritt sie ans Klavier. Sie nimmt den winzigen Schlüssel mit Dreipassgriff aus seinem Fach im Klavierhocker und dreht ihn einmal im Schloss, bis es klickt. Mit beiden Händen hebt sie den Klaviaturdeckel an. Er ist schwerer, als sie gedacht hatte, als wolle ihr eine widerstrebende Macht zu verstehen geben, dass sie etwas Unrechtes tut.
Sie zieht einen Handrücken sacht über die Tasten. Zu sacht, um einen Ton zu erzeugen, aber stark genug, um zu spüren, wie sich die winzigen Härchen an ihren Fingern unter dem sanft wogenden Druck aufrichten. Die Tasten fühlen sich seltsam an, ganz anders, als sie erwartet hatte. Die weißen wirken knochig und spröde, die schwarzen dagegen härter und kompakter. Dann schlägt sie mit ihrem Zeigefinger einen der höheren Töne an. Wie ein Stern strahlt das Geräusch in die Stille ringsum aus.
Als sie ein Rascheln hört, macht ihr Herz einen Satz. Sie weicht ein Stück zurück, dreht sich um und sieht, wie Wassili hereinstolziert. Der Kater starrt sie aus schmalen, grüngeschlitzten Augen an. Igors Vertrauter. Er streckt sich verstohlen. Von Neuem fühlt sie sich schuldig, bevor sie sich zusammenreißt:
Sie weiß, dass Igor erst in ein paar Stunden zurück sein wird.
Wieder drückt sie die Taste, diesmal kühner. Sie spielt den gleichen Ton wieder und wieder, bis das ganze Zimmer von seinen anhaltenden Schwingungen widerhallt. Dann schlägt sie die Taste sanfter an und lauscht dem verklingenden Ton nach. Das zerfallende Echo lässt einen Schauer über ihren Rücken laufen.
Einmal mehr wird ihr bewusst, dass sie ihn vermisst. Jeder Tag ohne ihn erscheint ihr inzwischen verloren. Und warum sollte sie auch Kompromisse eingehen? Was, wenn das ihre Chance ist, die wahre Liebe zu erleben? Nicht das ziellose Herumtollen ihrer Jugend, sondern etwas Ernsteres, etwas Größeres? Kann sie es sich mit Ende Dreißig wirklich leisten, solche Gelegenheiten verstreichen zu lassen? Sie ist frei zu tun, was ihr gefällt. Sie hat genug Geld, um ihre Wünsche zu finanzieren, und die Macht, sie umzusetzen. Jekaterina hatte ihre Chance. Warum sollte sie Mitleid mit
Weitere Kostenlose Bücher