Coco Chanel & Igor Strawinsky
förmliche Zurückhaltung, diese kühle Seite an sich. Er fürchtet sich davor, etwas zu sagen oder zu tun, was nicht mehr rückgängig zu machen wäre. Er wohnt in Cocos Haus und genießt dank ihrer Unterstützung einen angenehmen Lebensstil. Er ist sich nicht sicher, wie sie reagieren würde, wenn er ihr offen Avancen machte. Vielleicht wäre sie verärgert und würde Jekaterina davon erzählen. Vielleicht war ihre Einladung nach Bel Respiro ja doch vollkommen uneigennützig.
Schwitzend reibt er über die geröteten Stellen, wo die Stegplättchen seiner Brille die Haut in der Hitze wund gerieben haben. Niedergeschlagen denkt er an all die Liebe in der Welt und daran, dass nichts davon für ihn bestimmt ist. Er wird in seinem Leben mit keiner anderen Frau mehr schlafen als mit Jekaterina. Er sieht, wie sich diese Wahrscheinlichkeit vor ihm erstreckt, sich ausdehnt bis zu einem verschwindenden
Punkt in der Ferne, der wohl, vermutet er, sein Tod ist.
Dann ruft er sich zur Ordnung: Er ist hier, um zu arbeiten. Das steht für ihn an erster Stelle. Außerdem verfügt er über einen ausgeprägten Loyalitätssinn - immer schon. Er wird niemals aufhören, Jekaterina oder die Kinder zu lieben. Sie sind ein fester Bestandteil seines Lebens, und das werden sie immer bleiben. Ein Flirt ist zwar reizvoll, redet er sich ein, aber wahre Größe beweist nur, wer ihm widersteht. Doch gleichzeitig spürt er, wie die Nähe zu Coco ihn umbringt.
Er beobachtet, wie sie das Kerngehäuse ihres Apfels wegwirft, und folgt ihrem Beispiel. Dann machen sie sich auf den Rückweg durch den Wald. Hundsrosen blühen in den Hecken. Unzählige Schmetterlinge flattern über das von Pilzen durchzogene Gras, von den Baumwipfeln herab klingt süßes Vogelzwitschern.
Coco bietet ihm ihren Arm, und Igor ergreift ihn mit übertriebener Galanterie. So Seite an Seite mit ihr zu gehen hat schon etwas Intimes, denkt er. Sie beide umweht die gleiche Luft. Er spürt, wie sie sich an ihn lehnt. Ihre Berührung wird inniger, auch wenn sich der Abstand zwischen ihnen nicht verändert. Für eine Weile ist ihnen deutlich bewusst, dass sich ihre Arme durch die Stoffschichten hindurch berühren. Dann beugt er sich ohne Vorwarnung zu ihr hinüber und küsst sie, rasch und entschlossen, aber so, dass es immer noch als Spiel aufgefasst werden könnte. Ein unverbindlicher Kuss auf die Wange, weich und feucht, er dauert nicht einmal eine Sekunde.
Sie erlaubt es und lächelt, ohne ihn anzusehen, aber sie ermutigt ihn auch nicht weiterzugehen. Er fasst ihre Reaktion als eine Zurückweisung auf. Sie hat eine Grenze gezogen, bis hierhin und nicht weiter.
Schweigend gehen sie zurück zum Haus und lösen sich voneinander, kurz bevor sie den Garten betreten. Denn dort spielen die Kinder, und Jekaterina sitzt lesend in der Sonne.
Abends auf dem Balkon steht Jekaterina dicht neben ihrem Mann. »Das ist romantisch, findest du nicht?«, fragt sie.
Er kann es nicht abstreiten: der Jasminduft in der Luft, der zu drei Vierteln volle Mond und die Zikaden, die wie Caféhausgeiger fiedeln … »Ja«, sagt er und lehnt sich ans Geländer.
Er hat das Gefühl, sie nach ihrem Streit besänftigen zu müssen. Seit ein paar Tagen haben sie nicht mehr offen miteinander gesprochen. Igor fühlt sich immer noch gedemütigt und ist daher schweigsam und mürrisch. Er kann wochenlang schmollen. Meist bleibt es Jekaterina überlassen, den ersten Schritt zu machen, aber diesmal bemüht er sich um eine versöhnliche Haltung.
Er geht auf sie zu. Sie halten einander bei der Hand, und sein Blick wird weich. Er nimmt sie in die Arme und küsst sie keusch auf die Stirn. Seine Finger streicheln ihre Wange. Sie neigt den Kopf der Berührung entgegen. Seine Lippen wandern zärtlich zu ihren Augenlidern, aber als er versucht, sie auf den Mund zu küssen, dreht sie den Kopf zur Seite, sodass seine Lippen nur auf ihr Haar treffen.
»Nein«, sagt sie kaum hörbar.
Er spürt, wie sich gleichzeitig ihr Innerstes zurückzieht, plötzlich wirkt sie wie eine leblose Puppe in seinen Armen. Jeder begehrliche Impuls rinnt aus seinem Körper. Einen Moment lang hält er sie noch umfasst, spürt den Druck ihres Kopfs an seiner Brust. Sie ist müde. »Es war ein langer Tag, die Kinder sind schon im Bett«, sagt sie.
Igor kann sich kaum noch daran erinnern, wann sie zum letzten Mal als Mann und Frau miteinander geschlafen haben.
Er weiß, dass sie krank ist, und das macht es schwer für sie. Vielleicht sollte es
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