Coco Chanel & Igor Strawinsky
ihr beinahe lächerlich vor, sich nicht eingestehen zu wollen, dass sie nun einmal da ist. Jekaterina ist zu einem Loch in ihren Unterhaltungen geworden. Jetzt verleiht ihr der Wein den nötigen Mut, ihm Fragen zu stellen. Und es zeugt von ihrer wachsenden Vertrautheit, dass er entspannt genug ist, darauf zu antworten.
»Ich bin gewissermaßen mit ihr aufgewachsen.« Von der Anspannung des Schweigens befreit, wirken die Worte fast schwerelos.
»Eine Jugendliebe, wie romantisch.«
Er ignoriert sie. »Aber als ich mich zum ersten Mal bewusst zu ihr hingezogen fühlte, waren wir ungefähr vierzehn Jahre alt. Es war in einer Kathedrale.«
»Sag es nicht. Sie war die Maria im Krippenspiel.«
»Nicht ganz. Sie sang im Chor.«
Als feierlichen Auftakt zu seiner Geschichte bietet Igor ihr noch einmal Wein an. Diesmal lässt sie sich erweichen. Sie erlaubt ihm, ihr ein paar Zentimeter hoch einzuschenken, und nimmt den Wein als Eintrittskarte zu dieser Episode aus seinem Leben an.
»Es war ein schöner, kühler Frühlingstag. Aber in der Kathedrale war es kalt. Der Chor sang eine Hymne, und das Licht fiel durch die bunten Glasfenster auf die Stelle neben dem Altar, wo sie standen. Ich weiß noch, dass der Weihrauchduft überwältigend war, und die Musik stieg ins Gewölbe der Kathedrale auf. Kennst du die Akustik in solchen Kirchen?«
»Ja, ja, erzähl weiter.«
»Wie auch immer. In dem Moment, als der Priester sagte: ›Gehet ein in den Garten ewiger Wonnen‹, passierte es. Ich sah Jekaterina am Ende einer Reihe stehen, und …«
»Was?«
»Sie trug ein dünnes weißes Hemd, und in dem Licht, das von der Seite her durchs Fenster fiel, wurde es komplett durchsichtig.«
»Sie hat doch sicher noch etwas darunter getragen?«
»Bestimmt. Aber im Profil war die Wirkung auf einen heranwachsenden Jungen geradezu verheerend. Sie war …«
»Aufgeregt?«
»Genau.«
»Wahrscheinlich, weil es in der Kirche so kalt war.«
»Kirchen sind sehr erotische Orte.«
»Was?«
»Denk nur einmal an die Architektur einer Kathedrale, das ist absolut erotisch. Der Turm, die Kuppel, die gerippten Gewölbe, die nur darauf warten, anzuschwellen und sich wieder zusammenzuziehen …«
»Liebliche Maria«, spottet sie.
»Holde Friedensbotin.«
»Voll der Gnade.«
»Himmlische Königin.«
»Heilige Mutter Gottes.«
Beide lachen. Cocos Augen leuchten glasig. Ein paar Strähnen lösen sich aus ihrem Haar und leuchten im Licht auf.
»Was passierte dann?«
»Na ja, keiner von uns beiden hatte viel Kontakt mit dem anderen Geschlecht. Wir gewöhnten uns einfach an die Gesellschaft des anderen. Und bald waren wir die besten Freunde.«
Sie verzieht den Mund. »Freunde.«
Igors Tonfall wird ernster. »Ja, ganz recht, Freunde.«
»Bruder und Schwester?«
Er zuckt mit den Schultern.
»Aber deswegen hättest du sie doch nicht zu heiraten brauchen.«
»Ich weiß, du siehst in ihr nur die bettlägerige Kranke, aber sie ist eine intelligente Frau. Sie ist sehr belesen. Sie hat Geschmack, ist kultiviert …«
»Ich habe eher den Eindruck, sie läuft Gefahr, sich aus dem Leben herauszukultivieren.« Coco fällt es schwer, ihre Verachtung
für Jekaterina zu verbergen. Heute hat sie nicht einmal versucht, nach unten zu kommen. Stattdessen soll sich Marie den ganzen Tag um sie kümmern. Coco kann diese Art von Schwäche nicht ertragen. Jekaterina besitzt in ihren Augen nicht den geringsten Kampfgeist.
Als Igor sich vorstellt, seine Frau höre sie, verzieht er schmerzlich das Gesicht. Er mag es nicht, wenn so abfällig über sie gesprochen wird. Er will, dass man ihr mehr Respekt entgegenbringt. Ihre Körper verspotten sie schon genug. »Es geht ihr nicht gut«, sagt er.
»Ich weiß. Es tut mir leid.«
»Na ja, immerhin.« Es ist offensichtlich, dass er nicht weiter darüber reden will.
Sie spürt, dass ihre Unterhaltung einen Tonartwechsel braucht, und fragt fröhlich: »Was hast du eigentlich von mir gedacht, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind?«
Igor hebt das Weinglas von seinem Knie. Langsam dreht er den Stiel und sieht zu, wie der Wein dunkel gegen die Wände des Glases schwappt.
»Was ich gedacht habe, als ich dir zum ersten Mal begegnet bin?«, wiederholt er die Frage und denkt einen Moment nach. Unbewusst kneift er ein Auge zu und mustert das Glas, als er es anhebt. Die Oberfläche des Weins scheint eine Scheibe zu bilden, die ihre Form behält, in welche Richtung er es auch neigt.
»Komm schon, sag mir die
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