Coco Chanel & Igor Strawinsky
Wahrheit.«
»Ich fand dich ziemlich aggressiv«, sagt er.
»Aggressiv?«
»In deiner Ausdrucksweise, meine ich.«
»Und was noch?« Coco zündet sich eine Zigarette an und bläst rasch den Rauch aus.
»Ich fand dich klug und großzügig …«
»Ist das alles?«
»Nun, ich fand dich auch attraktiv, wenn es das ist, was du hören willst. Gute Figur, schlank …« Mechanisch dreht Igor das Glas weiter auf seinem Knie. »Muss ich noch weiterreden?«
Coco sieht hinaus in den Garten und auf das zarte Spitzenmuster der Sterne. »Nein. Das reicht.«
»Und was ist mit mir? Was hast du gedacht, als du mir zum ersten Mal begegnet bist?«
»Du wirktest etwas distanziert und kühl«, antwortet sie, ohne zu zögern.
»Das tut mir leid.«
»Aber verletzlich unter der Schale. Und voller Leidenschaft.«
»Leidenschaft?«
»Das habe ich bei der Erstaufführung des Sacre gesehen.« Ihre Stimme wird lauter. »Und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, das aus dir herauszuholen.«
»Ist es dir gelungen?« Er mustert ein Blatt, das im Außenlicht glänzt.
»Ich finde, unter den gegebenen Umständen habe ich ziemlich gute Arbeit geleistet.« Sie sieht ihn an, und sie lächeln.
Er berührt seinen Hinterkopf. »Mein Haar ist grauer geworden.«
»Aber das lässt dich …«, sie zögert, »vornehmer aussehen.«
Woran liegt es bloß, fragt er sich, dass Frauen graue Haare attraktiv finden? Vielleicht erinnert es sie an den Tod, und das erregt sie. Vielleicht reizt sie der Gedanke an die Sterblichkeit ihrer Männer.
»Zumindest fange ich an, mich besser zu kleiden, so viel ist sicher.« Er hört ein Summen an seinem Kopf.
»Das ist ja auch keine Kunst.«
Unvermittelt kratzt er sich am Arm. »Diese Mistviecher fressen mich auf!«
»Mich auch.«
»Das liegt an deinem Parfüm. Es macht sie verrückt.«
Mit der einen Hand nimmt Igor sein Glas, mit der anderen packt er die Flasche, dann geht er ihr voraus hastig hinein.
Kapitel 22
JEKATERINA SITZT AUFRECHT im Bett, als Igor ins Zimmer kommt. Er hat es sich angewöhnt, seiner Frau einen pflichtschuldigen Besuch abzustatten, nachdem er morgens ein paar Stunden gearbeitet hat. Er kommt immer zur gleichen Zeit. Es ist Teil seines Tagesrhythmus.
Jekaterina hat sich vorbereitet. Seit der furchtbaren Konfrontation mit dem Anblick ihres eigenen Inneren legt sie auch wieder mehr Wert auf ihr Äußeres. Um sich ein wenig herzurichten, hat sie ihr Haar gekämmt, etwas Rouge aufgelegt und sogar Lippenstift aufgetragen. Als Igor zur Tür hereinkommt, begrüßt sie ihn mit einem Lächeln und kämmt weiter ihr Haar.
Ihm wird das Herz schwer. Er sieht, was sie damit bezweckt, und antwortet mit einem gezwungenen Lächeln. »Du siehst sehr hübsch aus«, sagt er, um ihr ein Kompliment zu machen. Aber sie will mehr als Komplimente, das weiß er. Sie braucht Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit. Sie will seine Liebe. Und die kann - oder will - er ihr nicht geben. In seiner Stimme schwingt eine Zurückhaltung mit, die die freudlose, wenig begeisterte Wahrheit verrät.
Er merkt, dass er sich bewusst in Erinnerung rufen muss, dass sie ein guter Mensch ist. Er hat sie einmal geliebt, mit jugendlichem Feuer und einer Leidenschaft, die vollkommen unbesonnen zu sein schien. Ihre unschuldige Liebe war einmal so stark, dass sie gegen den Widerstand ihrer Eltern heirateten und ihren guten Namen aufs Spiel setzten. Er erinnert
sich an die missbilligenden Blicke seiner Verwandten bei der Hochzeit, an die spärlich besuchte Zeremonie, das schamrote Gesicht des Priesters. Er spürt immer noch, wie ihn der starke Weihrauchduft in der Nase sticht, sieht den goldenen Ring und ihr zitterndes Gesicht hinter dem Schleier, als sie ihr Gelübde spricht.
Aber das scheint jetzt eine Ewigkeit her zu sein: vor dem Krieg, vor der Revolution, vor dem Sacre . Seitdem hat sich ihr Leben von Grund auf geändert. Wenn er Jekaterina jetzt anschaut, erkennt er in ihr nicht mehr seine Braut. Seine Liebe zu ihr ist mit der Zeit geschwunden, genau wie ihre Gesundheit, und nur ein Rest kindlicher Zuneigung hält sie wie ein letztes, sich hartnäckig festklammerndes Band noch zusammen.
»Sehr hübsch«, sagt er noch einmal und hofft, dass die Wiederholung dem Satz irgendwie einen wahrhaftigeren Klang verleiht.
Trotzdem kann er sich nicht dazu überwinden, noch etwas hinzuzufügen. Beim Gedanken daran, wie er sie in letzter Zeit behandelt hat, fühlt er sich schlecht. Aber gleichzeitig fühlt er sich von ihrer Krankheit
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