Coco Chanel & Igor Strawinsky
wünschen, aber seit ihrer erzwungenen Trennung fühlt er sich seltsam befreit.
Er gesteht sich ein, dass Jekaterina recht hat. Er ist ein Feigling. Trotzdem war diese Szene unvermeidlich, ebenso unerfreulich wie notwendig, denn es kann nicht so weitergehen wie bisher. Der Drang, zu beichten, ist genauso groß wie der, sein Geheimnis zu bewahren. Er will die Wahrheit sagen. Aber wie sagt man seiner Frau, dass man sie nicht mehr liebt? Sein Mund ist zum Bersten voll mit dem Unaussprechlichen. Es wäre falsch, nur aus Mitleid bei ihr zu bleiben. Trotzdem spürt er den Impuls, die Hand auszustrecken, sie zu halten und zu beruhigen, obwohl das letztlich vielleicht sogar noch grausamer wäre.
»Ich gehe davon aus, dass du mit ihr geschlafen hast.«
Er bringt es nicht über sich, noch länger zu lügen, und wendet den Blick ab. Sein Schweigen ist die Bestätigung, die sie braucht.
»Wie oft?«
»Ist das wichtig?« Der Wunsch, die Hand auszustrecken, verfliegt.
»Ich will es wissen.«
»Jekaterina, ich habe nicht mitgezählt«, antwortet er argwöhnisch.
Ihr Blick ist wild, nicht so sehr vor Zorn, sondern aus Ungläubigkeit darüber, sich in dieser Falle wiederzufinden. Das Zimmer scheint seine Gestalt zu verändern.
Für Igor schiebt sich das Gewicht seines vergangenen Lebens mit Jekaterina gegen die Gegenwart mit Coco. Er spürt, wie die Reibung sein Innerstes erschüttert. In diesem Moment verabscheut er sich selbst. Plötzlich erwacht sein Selbstverteidigungsinstinkt, und er spürt, wie etwas Skrupelloses, ja Brutales von ihm Besitz ergreift. »Ich dachte eigentlich, das würde dich freuen!«, herrscht er sie an.
»Was? Bist du verrückt geworden?«
»Aber du hasst den körperlichen Kontakt mit mir.«
Jekaterina schüttelt den Kopf, erst langsam, dann entschlossener. »Das tue ich nicht!«
»Wie kannst du das abstreiten? Es ekelt dich an.«
»Das ist nicht wahr!«
»Aber das ist mein Eindruck.«
»Du willst also damit sagen, dass Coco mir im Grunde nur einen Gefallen tut? Ist es das?«
»Ich habe Bedürfnisse, Jekaterina.«
»Ich habe auch Bedürfnisse. Gewaltige Bedürfnisse.«
»Nun, vielleicht ist es ja so, dass wir unsere Bedürfnisse gegenseitig einfach nicht befriedigen können …« Er hasst, was er da sagt, aber so empfindet er nun einmal. Er fühlt sich in die Enge getrieben und weiß sich nicht mehr anders zu helfen.
»Ich kann nicht fassen, wie herzlos du sein kannst. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr du mich damit verletzt.« Ihr Hals schwillt an. Die Sehnen an ihrem Hals straffen sich, und ihre Brust beginnt zu beben. Mit einer Willenskraft, die Gegenstände verrücken könnte, zwingt sie sich dazu, nicht zu weinen. Mit ganzem Herzen kämpft sie darum, die Trauer, die von ihr Besitz ergreift, nicht nach außen dringen zu lassen. »Ich habe dich unterstützt, deine Launen ertragen, deine Kinder zur Welt gebracht …« Sie wendet sich von ihm ab, zieht die Decke bis zum Gesicht hoch und erstickt das Schluchzen, das in ihr aufsteigt.
Sie hat sich mit seinen langen Stunden am Klavier abgefunden, mit seinen häufigen Abwesenheiten wegen der Konzerte und Tourneen. Sie hat seinen Zorn und seinen Stolz toleriert, auch seine Arroganz. Aber sie hat auch nie zuvor damit rechnen müssen, dass er ihr untreu werden könnte. Sie ist am Boden zerstört und fühlt sich mit einem Mal überflüssig. »Ich ersticke hier«, keucht sie.
Schatten von Blättern flattern dunkel über die Wand. Gegenstände im Zimmer scheinen plötzlich Teil der Verschwörung zu sein. Die Lilien sind boshafte Zungen, eine Muschel wird zu einem heimlichen Ohr. Die Vorhänge sollen Dinge vor ihr verbergen. Ihre Fäuste krallen sich in die Decke. In ihrem Inneren möchte etwas explodieren. Wut brandet in ihr auf und verzerrt ihr Gesicht.
»Du Schwein!«, zischt sie mit erstickter Stimme. »Und dann auch noch mit dieser Hure!«
Das Primitive in ihr gewinnt die Oberhand. Am liebsten würde sie ihm ins Gesicht schlagen, sein Haar packen und daran reißen, nach ihm treten. Aber der Impuls dauert nur den Bruchteil einer Sekunde. Gewalt ist nicht ihre Art. In ihr ist nichts Wildes, Unbeherrschtes. Sie ist zu sehr auf
Anstand bedacht, zu zurückhaltend. Sie verflucht ihre kultivierte Erziehung. Für einen kurzen Moment wäre sie in der Lage gewesen, mit den Fäusten auf ihn einzuschlagen. Vielleicht hätte sie sich danach besser gefühlt. Vielleicht hätte er danach mehr Respekt vor ihr gehabt. Aber diese rohen Instinkte sickern
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