Cocoon, Band 01
Stickmeisterin entwickelt hat. Wenn du erst mal eine gewisse Zeit mit Weben verbracht und einige Muster erlernt hast, wird die Arbeit ziemlich einfach. Es wird eine Weile dauern, bevor du ans Auftrennen und Ändern gehen kannst.«
»Auftrennen?« Es tut weh, das Wort auszusprechen. Ich weiß nicht, ob ich wirklich wissen will, was es bedeutet.
»Es ist nicht so übel, wie es sich anhört.« Doch sie klingt nicht, als sei sie von ihren Worten überzeugt. »Damit ist vor allem das Entfernen von schwachen oder brüchigen Fäden gemeint.«
»Meinst du mit ›Fäden‹ Menschen?«
Eine kurze Pause entsteht, bevor sie mir antwortet. »Ja.«
»Wenn man etwas auftrennt, tötet man also jemanden?« Ich erinnere mich an das Weinen meiner Mutter, als wir von einer strengen Schwester aus dem Krankenzimmer meiner Großmutter geschickt wurden. Wir haben Großmutter nie wiedergesehen.
»Es ist sehr viel humaner als das, was früher war.« Ihre warmen Schokoladenaugen glitzern verdächtig. »Damals haben die Leute ihren Lieben beim Sterben zugesehen, und dann die Körper in der Erde verscharrt.«
»Was passiert mit den Leuten, die entfernt werden?«, flüstre ich, und denke an die zarte Hand meiner Großmutter, die meine fest drückte, bevor wir fortgeschickt wurden.
»Im Ernst, ich weiß es nicht«, sagt sie. »Tut mir leid, aber das fällt nicht in meinen Aufgabenbereich.«
Ihr Tonfall ist deutlich, diese Unterhaltung ist beendet.
Ich wechsle das Thema: »Du hast zweimal die Stickmeisterin erwähnt – was genau macht sie?« Ich hoffe, dass Enora noch bereit ist, weitere Fragen zu beantworten.
Enora lächelt, aber ihr Blick verrät, dass ihre nächste Antwort einstudiert ist. »Die Stickmeisterin hilft der Gilde, Rohmaterialien für das Gewebe von Arras zu ernten, und leitet uns bei unserer Arbeit an.«
»Ich werde also unter ihrer Aufsicht arbeiten?« Für einen kurzen Augenblick möchte ich fragen, ob Maela die Stickmeisterin ist, aber wenn sie es ist, dann will ich es lieber nicht wissen.
»Nein«, sagt Enora ernst. »Ihre Arbeit erfordert viel Feingefühl und ist sehr zeitintensiv. Sie spricht meist nur mit hohen Beamten oder den talentiertesten Webjungfern. Du musst noch viel lernen, Adelice«, weist sie mich zurecht.
Das verwundert mich kein bisschen – aber ich halte meinen spitzen Kommentar lieber zurück.
»Tut mir leid, ich habe so viele Fragen«, sage ich stattdessen. Ich will, dass sie mich mag. Ich brauche hier Verbündete, aber ihre Zurechtweisung hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack.
»Das kann ich dir nicht verübeln. All diese Veränderungen waren sicher nicht leicht für dich.« Sie stockt bei dem Wort Veränderungen, und ich merke, wie unangemessen es klingt. Mit vollem Bauch und am warmen Kamin war es leicht, mein anfängliches Eingesperrtsein zu verdrängen, aber jetzt nagt der Zweifel wieder an mir. Ich verachte mich dafür, dass ich vergessen konnte, was sie mit mir und meiner Familie gemacht haben – nach nur zwei warmen Mahlzeiten und einer Nacht im Luxus.
Enora tritt näher und bedeutet mir aufzustehen. Gleich darauf hält sie mir geschäftig Kleidungsstücke an, eins nach dem anderen, und tut murmelnd und seufzend ihre Meinung kund. Ich sehe Seide und Satin, und jede Kombination ist freizügiger als die vorangegangene. Zu Hause durfte ich so etwas nie tragen. Ärmellos zu gehen, wäre unangemessen gewesen, ein weiter Ausschnitt erst recht. Hin- und hergerissen zwischen Schuldgefühlen und eingeschüchtert von den freizügigen Kleidungsstücken lasse ich meine Finger knacken. Enora bemerkt es und bringt mich ins Badezimmer. Meine Mutter hat mich auch immer abgelenkt, wenn ich unglücklich war. Jetzt, da das Valpron nicht mehr wirkt, brandet der Schmerz wieder in mir auf, sobald ich an meine Familie denke. Ohne den Hunger spüre ich ihn deutlicher. Er ist fast unerträglich.
»Enora«, flüstre ich, während sie die Hand über den Schalter bewegt. »Weißt du, was mit meiner Familie passiert ist?«
Enora schüttelt sanft den Kopf, aber ihr Blick ist verständnisvoll. »Ich schaue mal, was ich rausfinden kann. Aber jetzt musst du dich für den Einführungskurs fertig machen.«
Das Bad ist genauso dekadent und riesengroß wie mein Schlafzimmer. An einem Ende stehen ein kleiner Tisch und ein Schminksessel. Ich kann mir vorstellen, wie viele Stunden ich dort verschwenden werde, während sie mich zurechtmachen. Der Rest des Raums ist mit Marmor und Porzellan gekachelt. In der Mitte
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