Code Delta
zu sehen, in der man sie festgehalten hatte. Er war gekommen, um sie zu holen. Er würde es wieder tun. Das war der Grund, warum sie noch am Leben war. Sie war nur nicht sicher, wie lange noch. Ihre Kopfschmerzen konnten bedeuten, dass sie innere Verletzungen erlitten hatte. Oder sie war stark dehydriert. Oder beides.
Wieder spannte sie frustriert die Muskeln, doch diesmal zog sie die Hände vor dem Körper nach oben. Es gelang ihr, sie mitsamt den Füßen bis fast vor die Augen zu bringen. Deutlich erkannte sie den alten Strick, mit dem sie gefesselt war. Er war dünn und ausgefranst. Vor- und zurückschaukelnd gelang es ihr, sich in sitzende Position aufzurichten.
Sie stöhnte, als ihr das Blut aus dem Kopf absackte und eine neuerliche Schmerzwelle auslöste. Mit fest zusammengepressten Augenlidern wartete sie, bis der Anfall abebbte. Als sie wieder klar denken konnte, betrachtete sie ihre Fesseln. Wäre sie nicht schon zweimal entführt, betäubt, bewusstlos geschlagen und zum Sterben liegengelassen worden, hätte sie glatt lachen mögen. Auf diese Art konnte man vielleicht einen Erwachsenen wirksam fesseln, aber sie war ein gelenkiges, dreizehnjähriges Mädchen. Sie senkte die Knie seitlich beinahe bis zum Boden und beugte dann den Oberkörper dazwischen vor. Unter Einsatz ihrer ganzen Beweglichkeit konnte sie mit ihren scharfen Zähnen die Stricke an den Händen erreichen und fing an, sie durchzunagen.
In ihrem Eifer, sich zu befreien, ignorierte sie den öligen Geschmack des Seils und knabberte daran wie eine Ratte. Sie spuckte ein paar Fasern aus und gestattete sich einen Funken Hoffnung. Hoffnung ist nicht einfach ein Gottesgeschenk , hatte King einmal gesagt. Hoffnung ist etwas, das man sich erarbeiten muss . Sie erinnerte sich ganz deutlich an die Worte.
Sie würde sich ihrer Fesseln entledigen.
Und dann? Sie wusste es nicht. Aber sie war voll Hoffnung. Nicht unbedingt auf Flucht, aber auf Hilfe. Sie vertraute auf ihren Vater. Er war einmal zu ihrer Rettung gekommen. Er würde wiederkommen.
Die Hoffnung zerstob, als sie das Knirschen von Stein auf Stein hörte. Sie blickte auf und sah, wie die Wand sich teilte. Dahinter kam eine Gestalt zum Vorschein, eine von hinten beleuchtete Silhouette. Schnell legte sie sich zurück und tat so, als wäre sie noch bewusstlos. Ein kurzer Stich in den Arm ließ sie die Augen für einen Moment wieder aufreißen, doch schon begann die Droge zu wirken. Bevor sie das Bewusstsein völlig verlor, hörte sie eine Männerstimme.
»Zeit zu gehen, Kindchen. Babel wartet.«
49 El Mirador, Guatemala
Die Rückseite der La-Danta-Pyramide sah aus, als könnte sie jeden Moment abrutschen und sie unter einer Steinlawine begraben. Ein Gitterwerk aus hölzernen Planken, Plattformen und Leitern zog sich an der Steilflanke empor, wirkte aber völlig überfordert mit der Aufgabe, das massige Bauwerk zusammenzuhalten. Queen, Bishop und Knight standen an seinem Fuß und sahen nach oben. Einzelne, dünne, hell hervorschimmernde Bäume klammerten sich an die Pyramide. Wahrscheinlich hatte man die Gewächse an Ort und Stelle belassen, weil ihre Wurzeln die Mauern stabilisierten.
Während sie sich der Tempelanlage näherten, verstummten die drei Deltas. Da sie am Fuß der Pyramide keine Spuren im Schlamm fanden, umkreisten sie das Gebäude vorsichtig in der Deckung des umliegenden Dschungels. Der anhaltende Gewittersturm machte es unmöglich, etwas zu hören, aber seit Sonnenaufgang war die Wolkendecke etwas heller und wenigstens die Sicht besser geworden. Nachdem sie niemanden gefunden hatten, versteckten sie sich und beobachteten die Anlage.
Die Vorderseite der Pyramide wirkte wesentlich eindrucksvoller als die Rückseite. Der schiefergraue Steinbau bestand aus Stufen, die in mehreren Ebenen bis zur Spitze führten. Ein Großteil der Anlage war noch von Vegetation bedeckt, aber die größte und am besten erhaltene Treppe lag frei. Hinaufzuklettern war höchstens dann ein Problem, wenn jemand völlig außer Form war.
Während Bishop die Pyramide betrachtete, stellte er sich vor, wie sie vor zweitausend Jahren ausgesehen haben musste. Ein Hohepriester auf ihrer Spitze, geschmückt mit leuchtenden Federn und Farben. Sklaven und Tiere, aufgereiht zur Opferung, um Chaac zu besänftigen, den Regengott. Heute schien er äußerst schlechtgelaunt zu sein, nach dem tobenden Sturm zu urteilen; vielleicht, weil man ihm zweitausend Jahre lang seine Opfer vorenthalten hatte, vielleicht auch, weil
Weitere Kostenlose Bücher