Code Freebird
würde die Sonne aufgehen, und Levy hatte noch immer keinen Schlaf gefunden.
Wie auch? Bevor er mit Michaelis zum neuen Tatort nach Mannheim aufbrach, musste er einen ersten Zwischenstand zu den bisherigen Erkenntnissen und seinen daraus resultierenden Schlussfolgerungen ziehen.
Vorsicht war geboten. Es war noch viel zu früh, um etwas zum Täter, der Tätergruppe und der dahintersteckenden Motivation zu sagen. Das brauchte Zeit und viel, viel mehr Information. Doch der Innensenator hatte ihn bei der Verabschiedung angehalten, schnell Ergebnisse zu liefern, damit Michaelis gegenüber Demandt und dem BKA nicht ins Hintertreffen geriet. Nur, wie sollte er das anstellen? Er war kein Hellseher und schon gar kein Scharlatan, der voreilige Schlussfolgerungen aus unverarbeitetem Material zog. Die Kriminalpsychologie war keine Bühne, auf der man Hasen und Tauben beliebig aus einem Hut zog und sie wieder darin verschwinden ließ.
Sie war eine Disziplin, die sich streng auf die objektive Beurteilung der Entscheidungen berief, die der Täter beim Begehen der Tat getroffen hatte.
Und dass ihm die Auswirkungen seiner Taten bewusst sein mussten, stand anhand der Schwierigkeit, derartige Bomben zu bauen, außer Frage.
Die Bilder der zerfetzten Menschen, die bei den bisherigen Anschlägen getötet wurden, forderte Levy einiges ab. Abgerissene Gliedmaßen, geplatzte Leiber, die das Innere bloßlegten, oder, wie im Falle Raabs, das Fehlen des Brust- und Bauchbereiches zählten zu den schrecklichsten Erfahrungen, die er bislang gemacht hatte. Diese Aufnahmen zeigten eindeutig, wie viel Hass und Abscheu im Täter stecken mussten. Keine andere Tötungsart offenbarte dies so schonungslos. Zwanzig blutige Messerstiche konnten mit keinem einzigen Bombenopfer konkurrieren. Hier handelte eindeutig jemand, der jeglichen Bezug zur menschlichen Würde verloren hatte. Diesen Menschen prägte der absolute Zerstörungswille. Ein schlichter Tod, wie der via Messer oder einer Kugel, reichte ihm nicht. Er wollte ausmerzen.
Levys innerer Zensor meldete sich. Eigene Wert- und Moralvorstellungen zum Täter mussten zurückstehen, wenngleich das nicht immer leicht war, wenn man es mit bombenzerfetzten Menschen zu tun hatte. Die Frage »Wie kann ein Mensch anderen etwas so Schreckliches antun?«, war von vornherein substanzlos, ja, gefährlich. Es gab Ursache und Wirkung, die jeden Menschen zu einer Tat verleiten konnten, die er vorher niemals für möglich gehalten hatte. Dies zu verneinen kam einem Selbstbetrug gleich.
Die Erfahrungswelten, in denen der Täter gelebt und die ihn zu diesen Taten veranlasst hatten, konnten von einem Außenstehenden nicht be- und schon gar nicht verurteilt werden.
Niemand konnte nachempfinden, was in Levy vorging, seitdem er von einem Bruder wusste, der seine gesamte Familie ausgelöscht hatte. Das war eine Erfahrung, die man nicht rational greifen konnte. Hier ging es um ein Gefühl, das so stark war, dass kein Verstand ihm Herr werden konnte.
Levy musste professionellen Abstand zu diesen aufgerissenen Augen und Mündern finden, damit er vorwärtskam. Mach dir die Getöteten nicht zu eigen, hörte er sich sagen. Tritt einen Schritt zurück, betrachte sie von außen.
Was hat den Täter dazu gebracht, sie auf diese Art und Weise zu töten? Wieso hat er andere Tötungsarten bewusst und vorsätzlich außer Acht gelassen, obwohl sie weit weniger planungs- und durchführungsintensiv waren? Und schließlich: Welches Bedürfnis hat er damit befriedigt?
Wieso mussten diese oder überhaupt Menschen sterben? Hätte es nicht gereicht, ein Gebäude, ein Auto oder ein paar Schaufensterauslagen zu sprengen, um Angst und Panik in der Bevölkerung auszulösen?
Offensichtlich nicht.
Er hat genau das getan, was er wollte. Dieses Verhalten fußte folglich auf einem Bedürfnis, das er zu stillen suchte.
Verhaltensweisen sind austauschbar, in der Soziologie oft deckungsgleich. Bedürfnisse jedoch, auch wenn sie von vielen geteilt werden, reichen tiefer in die menschliche Seele hinein. Sie definieren ihn.
Er schlussfolgerte: Menschen handeln bedürfnisorientiert. Daraus ergibt sich ein Verhalten, das wieder zurück auf einen ganz bestimmten Menschen verweist.
Nicht das Verhalten war somit personenspezifisch, sprich individuell, sondern das Bedürfnis. Dieses zu definieren, hieße den Menschen zu beschreiben, der von ihm getrieben wurde.
Levy stellte sich zur Veranschaulichung eine Familie vor dem Fernseher vor. Sie alle zeigten
Weitere Kostenlose Bücher