Codename Hélène

eingesperrt, bevor sie selbst in Folge des gescheiterten Attentats festgenommen wurden. Nach dem Krieg wurde Oberg in Frankreich inhaftiert, wegen zahlreicher Kriegsverbrechen – Befehl zur Erschießung von Geiseln, Befehl zur Zerstörung der Altstadt von Marseille, Befehl zur Deportation von Juden in Vernichtungslager – zum Tod verurteilt, aber irgendwann zu lebenslanger Haft begnadigt und schließlich 1962 entlassen.
    Die Befreiung von Paris löst auch im Château de Fragne Jubel aus. Aber nur zu jubeln erscheint den Schlossherren und insbesondere der Schlossherrin Hélène als dem historischen Ereignis nicht angemessen. Um auf die Sieger würdig anstoßen zu können, räumen sie den Weinkeller aus. Da liegen Hunderte von Flaschen Wein und Champagner. Gemeinsam mit John Alsop und Denis Rake wischt Nancy Wake die dicken Schichten aus Staub und toten Fliegen ab, die sich seit der Lagerung vor mehr als zwanzig Jahren gebildet haben. Erste Tests ergeben, dass der Inhalt frisch geblieben ist.
    Sie ahnt nicht, dass die geplante Party auch ihr zu Ehren stattfinden soll, denn der 30 . August ist ihr Geburtstag. Das Festkomitee, unter der bewährten Leitung des an Feiern aller Art, auch ungewöhnlichen unter Beschuss im Wald, stets interessierten Funkers Roland alias Denis Rake, hat bei verschiedenen Bauern in der Umgebung Brot und Fleisch und Käse besorgt, und mit den mittlerweile fast fünfzig Mann der Schlossbesatzung eine Überraschung für Hélène einstudiert. Am Morgen des 30 . August steht sie auf der Treppe vor dem Eingangsportal, eingerahmt von Tardivat und Farmer, Alsop und Dusacq, Rake und Schley, alle aus gegebenem Anlass in Uniform und frisch rasiert, nimmt die Glückwünsche der verbündeten Widerstandskämpfer entgegen, des Maquis, der Briten, der Amerikaner, lässt sich auf französische Art der bises von allen auf die Wangen küssen und freut sich über das Geschenk ihrer Bodyguards, ein Blumengesteck, eingewickelt in die spanische Flagge.
    Plötzlich biegen mit lautem Gesang französische Gendarmen in Uniform und im Gleichschritt um die Ecke, Gewehr auf den Schultern, legen salutierend die Hand an die Mütze, was von Nancy Wake und allen anderen erwidert wird, und ziehen nach dem Defilee wieder um die nächste Ecke des Château ab. Kaum sind sie aus dem Blickfeld verschwunden, folgt bereits an der anderen Ecke die nächste Abordnung, Wieder fünfzig Mann, wieder mit Gesang, wieder salutierend. Erst beim dritten Salut merkt Nancy Wake, dass es immer dieselben Männer waren, die ihr alles Gute wünschten. Sie hatten sich hinterm Schloss andere Mützen aufgesetzt. Es gibt sogar ein Foto von diesem denkwürdigen Ereignis. Wer sonst als der verrückte Ami John Alsop kann es gemacht haben! Den Schlussakkord der Parade liefert John Farmer alias Hubert, der auf der unzerstörten Orgel der ehemaligen Schlosskapelle für Nancy ein »Happy Birthday« spielt.
    In der Halle hat Denis Rake lange Tische aufstellen lassen. An denen wird anschließend gespeist und gefeiert. Den ganzen Tag über und bis in die Nacht leeren sie Flasche um Flasche, immer wieder steht einer auf und hält eine Rede auf die »Weiße Maus« oder auf den Maquis oder auf de Gaulle oder auf alle gemeinsam, und dass die Reden immer unverständlicher werden, liegt nicht an der schwierigen spontanen Übersetzung vom Französischen ins Englische, was Nancy Wake ja spielend beherrscht, oder umgekehrt, sondern am zunehmend trunkenen Zustand der Festgesellschaft.
    Sie sitzen im Schloss wie auf einer Insel, umgeben vom stürmischen Meer. Das beherrschen aber noch immer die Deutschen. Aus Montluçon kommt zwar die Nachricht, dass die Garnison bald aufgegeben würde und die Besatzer abzögen. Ob das stimmt, werden sie beobachten können, denn die müssten auf der Straße vorbeiziehen, die vom Château aus sichtbar ist. Bleiben aber deutsche Hochburgen – allerdings insgeheim auch Hochburgen der Résistance – wie Clermont-Ferrand und Vichy, bis vor Kurzem Sitz des verhassten Regimes, das sie bekämpfen. Vichy wird nach Pétains geordneter Flucht von den Deutschen allein regiert. Die Befreiung genau dieser Stadt dürfte wie die von Paris symbolischen Charakter haben. Lange kann es bis dahin wohl nicht mehr dauern. Roland hört regelmäßig BBC ab, hat die bisher üblichen Vorsichtsmaßnahmen der wireless operators aufgegeben. Denis Rake muss nicht mehr befürchten, dass er entdeckt wird. Die Boches haben ja kaum noch Benzin für ihre schwarzen