Codename Hélène
Fest, und vor allem die aus Paris angereisten Freunde der Braut trugen mit ihren nicht immer jugendfreien Gesängen zum Gelingen bei. Selbstverständlich gab es genug Champagner, aber auch die wenigen Gäste, Verwandte von Henri, die auf frisch gepresstem Orangensaft bestanden, gerieten in Stimmung. Nancy hatte Barkeeper und Kellner angewiesen, die Säfte mit Brandy oder Grand Marnier anzureichern. Ihr Schwiegervater war vor allem deshalb glücklich und zufrieden, weil ihn dieser wunderbare Abend keinen Centime gekostet hatte. Außerdem musste er zugeben, dass sein Sohn eine ausgesprochen schöne Frau gewählt hatte.
Das junge Paar zieht nach der Hochzeitsreise in eine luxuriöse Wohnung in die Rue Edouard Stephan, mit Blick über Marseille und den Hafen. Nancy Fiocca, geborene Wake, muss sich nun nicht mehr darum kümmern, wovon sie die Miete bezahlt oder ob sie genügend zum Leben verdient. Sie passt sich dem an, was von Frauen jener Klasse, zu der sie durch Einheirat jetzt gehört, erwartet wird. Gibt Partys, geht einkaufen, empfängt abends ihren Mann nach der Arbeit und macht hauptsächlich einen guten Eindruck. Sie lernt sogar, eine Bouillabaisse zu kochen. Der Maître des »Basso« bringt es ihr bei. Als ihr Schwiegervater mal den berühmten Maurice Chevalier zu Gast hat, ist es Nancy, die sie zubereitet, und alle loben ihre Künste. Ein angenehmes Leben, so scheint es.
Vom Krieg, den Frankreich zwar erklärt hat, der aber bisher noch wie eine Art Stillstandkrieg aussah, war im öffentlichen Leben Marseilles kaum etwas zu bemerken. Hamsterkäufe soll es jedoch bereits gegeben haben, wie die Zeitung berichtete. Auch die Fioccas hatten sich eingedeckt. Vor allem mit Brandy, Wein, Kaffee und Zigaretten. Was jedoch in der Öffentlichkeit auffiel, waren die Schlangen vor dem amerikanischen Konsulat. Wer Verwandte oder solvente Bürgen in den Vereinigten Staaten von Amerika vorweisen konnte, wartete täglich auf die erlösende Nachricht, ins Land der Freien einreisen zu dürfen. Unter ihnen viele deutsche Juden. Denn für die ging es jetzt, da die Nazis, vor denen sie geflohen waren, an der Grenze standen, um Leben oder Tod. Auf dem Nachhauseweg vom US -Konsulat, wo sie wegen ihres Visums nachgefragt hatten und erneut vertröstet worden waren, machten jene Emigranten, die es sich leisten konnten, Station im Hôtel du Louvre et de la Paix, tauschten die neuesten Gerüchte aus und tranken einen Pastis oder ein Glas Wein. Mit ihren Frauen oder, wie Lion Feuchtwanger, mit der aktuellen Geliebten. Das konnten sich aber nur die Wohlhabenden unter den Flüchtlingen leisten.
Zu denen gehörte der Emigrant Walter Benjamin schon lange nicht mehr. Das war mal anders gewesen, als es ihm noch gut ging und Frankreich nur eine Urlaubsreise wert. Marseille kannte er aus diesen Zeiten. Im Sommer 1926 hatte er hier sogar für ein Experiment Station gemacht. Für einen Selbstversuch mit Drogen: »Um sieben Uhr abends nach langem Zögern Haschisch genommen. […] So liege ich auf dem Bett, las und rauchte. Mir gegenüber immer dieser Blick in den ventre von Marseille«, notiert er in seinem dann Haschisch in Marseille betitelten Aufsatz, wo er auch die Bar im Restaurant »Basso« am Alten Hafen beschrieb:
»Und auf dem Hintergrunde dieser immensen Dimensionen des inneren Erlebens, der absoluten Dauer und der unermeßlichen Raumwelt, verweilt nun ein wundervoller, seliger Humor desto lieber bei den Kontingenzen der Raum- und Zeitwelt. Ich empfinde diesen Humor unendlich, wenn ich im Restaurant Basso erfahre, die warme Küche würde gleich geschlossen, während ich mich eben niedergelassen habe, um mich in die Ewigkeit hineinzutafeln. Nachher nichtsdestoweniger das Gefühl, daß ja dies alles hell, besucht, belebt ist und auch bleiben wird. […] Aber das Essen war später. Erst die kleine Bar am Hafen. […] Auf dem Wege zum vieux port schon diese wundervolle Leichtigkeit und Bestimmtheit im Schritt, die den steinigen, unartikulierten Erdboden des großen Platzes, über den ich ging, mir zum Boden einer Landstraße machte, über die ich, rüstiger Wanderer, bei Nacht dahinzog. […] In jener kleinen Hafenbar begann dann das Haschisch seinen eigentlich kanonischen Zauber mit einer primitiven Schärfe spielen zu lassen, mit der ich ihn vordem wohl noch kaum erlebte. Nämlich er machte mich zum Physiognomiker, zumindest zum Betrachter von Physiognomien, und ich erlebte etwas in meiner Erfahrung ganz Einziges: ich verbiß mich förmlich
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