Codename Hélène
während bereits die Juden des Landes in Ghettos getrieben wurden, blieb es in Frankreich noch gespenstisch ruhig. Der Krieg war erklärt, aber er fand nicht statt. An den Grenzen standen sich die Heere gegenüber. Die einen vor, die anderen hinter der Maginot-Linie, die als sicheres Bollwerk galt. Der deutsche Generalstab bereitete mehr als ein halbes Jahr lang den Angriff vor. Am 10 . Mai 1940 überfielen die Deutschen, wider alles Völkerrecht, die neutralen Staaten Belgien und Holland, durchquerten die beiden Länder und marschierten im Norden Frankreichs ein. Die Bunker auf der Maginot-Linie entlang der französischen Grenze waren für die deutschen Sturzkampfbomber und Panzerverbände kein ernst zu nehmendes Hindernis gewesen.
Drei Tage danach, am 13 . Mai 1940 , hielt der neue britische Premierminister Winston Churchill eine Rede vor dem Unterhaus. Er wird Geschichte schreiben, denn es ist die bis heute berühmte »Blut-Schweiß-und-Tränen«-Rede – im Original eigentlich blood, toil (Mühsal) sweat and tears – , mit der er das Volk einschwört auf jene harten Zeiten, die jetzt auf sie zukommen werden. Mit aller Kraft und »mit der Willensstärke, die Gott uns zu verleihen vermag«, werde man Krieg führen gegen die ungeheuerliche Tyrannei der Deutschen, und in diesem Kampf, in dem es letztlich um das Überleben der Menschheit gehe, könne er nichts versprechen außer einemLeidensweg der schmerzlichsten Art: » We have before us many, many long months of struggle and of suffering.«
Das Ziel jedoch werde man nie aus den Augen verlieren – den Sieg um jeden Preis. Sieg trotz allen Terrors. Sieg, wie lange und mühsam auch immer der Weg dahin sein werde, denn »ohne diesen Sieg werden wir nicht überleben«. Wochen später mussten 40 0 00 Briten vom Expeditionskorps nach der Schlacht von Dünkirchen den Weg in die Kriegsgefangenschaft antreten, aber Hunderttausende wurden mit Schiffen über den Kanal gerettet und zurückgebracht nach England.
Vor der Wehrmacht waren etwa acht Millionen Franzosen und rund zwei Millionen Belgier in den Süden geflüchtet. Ambulanzfahrzeuge – in Erinnerung an den französischen Comte Rochambelle, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg kämpfte, Rochambelles genannt – kamen auf den verstopften Straßen kaum durch. In einem dieser Autos saß am Steuer Madame Fiocca aus Marseille. Sie hatte ihrem Mann in einer schwachen Stunde das Versprechen abgerungen, einen Lieferwagen zu kaufen, zum Rochambelle umzubauen und ihr zu überlassen. Als er anderntags wieder nüchtern war, bereute er seine Zusage. Doch seinen Einwand, dass sie keinen Führerschein besitze, hatte sie mit der rhetorischen Frage gekontert, ob er denn glaube, in diesen Zeiten würde von der Polizei ausgerechnet bei Ambulanzfahrzeugen die Fahrerlaubnis überprüft. Also kaufte er das Auto, ließ es umrüsten und erteilte seiner Frau wenigstens ein paar Stunden Privatunterricht, bevor er Marseille verlassen musste Richtung Front.
Die gab es eigentlich schon nicht mehr. Schon am 14 . Juni, gut vier Wochen nach Beginn des Westfeldzugs, zog die Wehrmacht in Paris ein. Tagelang habe sie geweint, notierte Nancy Fiocca, geborene Wake. In der Stadt ihrer Träume, der Stadt ihrer unbeschwerten Abenteuer wehten statt der Trikolore nun Hakenkreuzfahnen. Auf den Boulevards, den Feldern leichtfüßiger Flaneure, marschierten jetzt mit festem Schritt und Tritt die deutschen Sieger, Frankreich musste kapitulieren. Am 22 . Juni wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet, das Land zweigeteilt in einen von deutschem Militär verwalteten Norden, Sitz in Paris, und den sogenannten freien Süden unter der Führung Henri Philippe Pétains. Seit der Marschall im Ersten Weltkrieg die Festung Verdun gegen die Deutschen verteidigt hatte, galt er als Held und war damit überlebensgroß unsterblich. Als Sitz seiner Regierung wählte er den Kurort Vichy in der Auvergne. Im französischen Reststaat, Etat Français genannt, wehten zwar keine Hakenkreuzfahnen wie im Norden, sondern die französischen Flaggen. Doch viele der bislang selbstverständlichen bürgerlichen Freiheiten wurden ausgerechnet im frei genannten Teil Frankreichs eingeschränkt, zensiert oder abgeschafft. Der autoritäre Regierungsstil und die Thesen des Vichy-Regimes passten geradezu ideal zum deutschen Faschismus.
Zum Muttertag hielt Marschall Philippe Pétain eine Rede, die bis auf die Betonung der christlichen Tradition ebenso gut im Nazi-Reich hätte gehalten werden
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