Codename Hélène
in die Gesichter, die ich da um mich hatte und die zum Teil von remarkabler Roheit oder Häßlichkeit waren. Gesichter, die ich gemeinhin aus einem doppelten Grunde gemieden hätte: weder hätte ich gewünscht, ihre Blicke auf mich zu ziehen, noch hätte ich ihre Brutalität ertragen.«
Jetzt war Marseille seine letzte Hoffnung, den Uniformierten mit den brutalen Gesichtern, die mittlerweile in Wirklichkeit auftraten und nicht mehr nur in seinen Albträumen, zu entkommen. Das wird er schaffen. Aber als ihn die Kraft, der Mut, die Hoffnung auf bessere Zeiten im spanischen Portbou verließen, nahm er sich, obwohl er doch ein Visum für die USA besaß, den Jägern der Gestapo entkommen war, am 26 . September 1940 lieber selbst das Leben, bevor es die ihm doch noch hätten nehmen können. So zumindest die gängige Annahme bis vor wenigen Jahren. Inzwischen gibt es Zweifel an Benjamins Freitod. War es vielleicht doch ein natürlicher Tod? Oder gar Mord? Denn der Brief an Theodor W. Adorno, in dem er angekündigt hatte, sich umzubringen, ist verschollen.
Die Propaganda der Nazis hatte schon Wirkung gezeigt, bevor die Deutschen einmarschierten. Bereits am 14 . September 1939 , kurz nach der Kriegserklärung Frankreichs als Konsequenz auf den deutschen Überfall auf Polen und Monate, bevor der Krieg tatsächlich begann, wurde von der Regierung in Paris angeordnet, dass alle Männer zwischen achtzehn und fünfundfünfzig, die den »feindlichen Nationen« angehörten, in camps de concentration , Sammellagern, interniert werden sollten. Widerspruch in der veröffentlichten Meinung war kaum vernehmbar. Die Aufforderung, sich in Internierungslagern zu melden, ganz egal, ob Jude oder nicht, richtete sich an alle als feindlich bezeichneten Ausländer, selbst wenn die, wie etwa deutsche Juden, vor ihren Feinden in der eigenen Nation nach Frankreich geflüchtet waren.
Als Touristen waren sie in Marseille und an der Côte d’Azur stets willkommen gewesen. Auch in den ersten Jahren nach Hitlers Machtergreifung wurden sie im Land der Menschenrechte noch freundlich empfangen. Es gab keine Beschränkungen. Doch seit Mitte 1938 immer mehr Flüchtlinge nicht nur in Paris, sondern auch hier an den Spielstätten der Reichen und Schönen Schutz suchten vor dem Nazi-Terror oder den Todesschwadronen der Franco-Faschisten, begann die Stimmung der Bevölkerung zu kippen. Erst recht, als die Regierung in Paris nach dem Überfall auf Polen die Generalmobilmachung angeordnet und, gemeinsam mit Großbritannien, Deutschland den Krieg erklärt hatte – so wie es dem Verbündeten in einem Beistandspakt versprochen worden war. Hitler hatte sich vor einem möglichen Eingreifen Stalins durch einen Nichtangriffspakt mit dem anderen Terrorregime abgesichert. Beide Diktatoren, der Faschist und der Kommunist, teilten sich dann die Beute Polen. In Westeuropa fing der Feldzug mit einem »Sitzkrieg« an, wie Historiker das im Unterschied zum später stattfindenden »Blitzkrieg« nennen.
Das größte der Internierungslager lag in Gurs am westlichen Rand der Pyrenäen. Dort waren früh schon die aus Spanien während des Bürgerkriegs geflüchteten Republikaner eingesperrt worden. Die menschenunwürdigen Zustände waren zwar nicht vergleichbar mit den unmenschlichen in deutschen Konzentrationslagern. Aber Tote gab es auch in Gurs, im Durchschnitt starben, wie Historiker später ermittelten, sieben Menschen pro Tag. Weil die sogenannten unerwünschten Personen auf nacktem Fußboden oder stinkenden Strohsäcken schlafen mussten, weil sie in Baracken zusammengepfercht wurden, nachdem das Vichy-Regime gnadenlos alle Juden ins Lager deportieren hatte lassen im Vorgriff auf deutsche Anordnungen, weil sie verhungerten, weil Krankheiten ausbrachen unter den Internierten, ist Gurs ein Todeslager geworden.
Die in Deutschland geborene jüdische Publizistin Hannah Arendt, eng befreundet mit Walter Benjamin, war in Gurs eingesperrt, bevor ihr die Flucht über Spanien und dann in die USA gelang. Ihre Feinde, sagte sie mal in einem der Interviews, die der unvergessliche Günter Gaus mit ihr im Fernsehen führte, als es noch lange Gespräche gab und nicht nur Talk, ihre Feinde – die Deutschen – hätten sie in ein Konzentrationslager gesteckt und ihre Freunde – die Franzosen – in ein Internierungslager.
Im Januar 1940 erhält Henri Fiocca seinen Gestellungsbefehl. Noch immer hatte der Krieg nicht begonnen. Während in Polen bereits Tausende ermordet worden waren,
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