Codename Hélène
sie den Schweizer Schlagbaum sahen. Ganz im Gegenteil. Die Schweizer Polizei wies sie ab und schickte sie zurück nach Frankreich, direkt in die Arme ihrer deutschen Häscher, die ein paar hundert Meter weiter auf ihre Opfer warteten. Für mehr als 23 0 00 Juden, zumeist Deutsche, war bis Mai 1945 die verschlossene Schweizer Grenze ihre vorletzte Station vor der Endstation Vernichtungslager. Mit schuld zu sein am Tod der Abgewiesenen, wurde in der Schweiz ebenso verdrängt und totgeschwiegen wie in Frankreich.
Der erste Versuch Nancy Fioccas, via Perpignan und Toulouse die Pyrenäen zu erreichen, scheiterte am schlechten Wetter. Es schien ihr zu gefährlich, erst einmal nach Marseille zurückzukehren und dort auszuharren bis zur nächsten Chance. Sie blieb in Toulouse und nahm sich ein Zimmer in einem kleinen Hotel. Zweiter Versuch. Diesmal waren spanische Fluchthelfer, die gut bezahlt wurden, weil nur sie den Weg über die Pyrenäen kannten, nicht erschienen. Waren sie verhaftet worden? Oder hatten sie Angst vor den Deutschen bekommen? Wieder zurück nach Toulouse. Auch der dritte Versuch musste abgebrochen werden, weil Wehrmachtpatrouillen bereits vor den Bahnhöfen alle Reisenden kontrollierten. Insgesamt nur drei Eisenbahnstrecken führten zu den Grenzen, die Frankreich von Spanien und der Schweiz trennten. Bahnhöfe sowie Straßen in deren Nähe wurden seit November 1942 scharf bewacht, ebenso eine 25 Kilometer breite Sperrzone. Was für Flüchtige bedeutete: Sie mussten vorher aussteigen und sich dann zu Fuß auf den Weg machen.
Pat O’Leary suchte eine sichere Route unter diesen möglichen Fluchtwegen. Er wusste, dass ihm die Gestapo auf der Spur war. Noch aber vermutete die ihn in Marseille, nicht hier. In einem Safe House seines Netzwerks warteten außerdem acht britische Piloten. Die waren kürzlich aus einem Lager in der Nähe von Toulouse befreit worden. Ohne Gewalt. Mit einem allerdings genialen Einfall. Über Kontakte in der Résistance hatte sich ein Aufseher als Helfer unter der Bedingung angeboten, dass man ihn auf der Flucht über die Pyrenäen mitnehmen würde. Pat O’Leary sagte dies zu. Der Mann brachte daraufhin einige Tage später für die Nachtschicht der Wärter ein paar Flaschen Wein mit, die angeblich von einem befreundeten Weinbauern stammten. In Wirklichkeit war der Winzer ein Apotheker, der die Flaschen im Auftrag von O’Leary mit einem geschmacksneutralen Schlafmittel präpariert und dann wieder verkorkt hatte. Schon nach dem ersten Glas schliefen die so großzügig Beschenkten ein, und ihre Gefangenen brachen daraufhin, angeführt von dem, der seinen Kameraden keinen reinen Wein eingeschenkt hatte, aus.
Dieser Gruppe, zu der inzwischen auch Renée Nouveau gehörte, deren Mann in Marseille verhaftet worden war, sollte sich Nancy Fiocca jetzt anschließen. Gemeinsam wollten sie sich auf den Weg nach Spanien machen. Ohne Gepäck. Nur das dabei, was sie am Leib trugen. Zunächst noch ein paar Kilometer mit der Eisenbahn und dann zu Fuß über die Berge.
Der Zug, in dem Nancy unterwegs ist zum Treffpunkt in Toulouse, hält plötzlich auf freier Strecke. Französische Polizisten umstellen mit gezückter Waffe die Waggons. Alle Passagiere müssen aussteigen und sich ausweisen. Manche lassen sie gehen, andere werden festgenommen und abgeführt. Auch Nancy Fiocca. Erklärungen gibt es keine. Ihren Ausweis hat sie zwar gezeigt, doch den halten die Polizisten für eine Fälschung. Worüber sie unter anderen Umständen gelacht hätte, denn dieser Ausweis ist echt, der falsche liegt im Hotel. Doch in dieser Situation gibt es nichts zu lachen. Sie wird ins Gefängnis nach Toulouse verfrachtet und dort verhört.
Und bleibt dennoch kühl. So schnell fällt ihr nichts Besseres ein als eine dünne Geschichte, aber fürs Erste dürfte die genügen: Auf der Fahrt von Perpignan nach Toulouse mit ihrem Ehemann, behauptet sie, habe es zwischen ihnen einen heftigen Streit gegeben, woraufhin der wütend am nächstbesten Bahnhof ausgestiegen sei und sie lediglich mit ein paar Francs zurückgelassen habe. Tatsächlich liegen eine gewisse Summe für die Flucht, ihr gesamter Schmuck und ihre gefälschte Carte d’Identité – ausgestellt in Rieux auf den Namen Lucienne Suzanne Carlier, geboren am 22 . August 1918 , keine besonderen Merkmale – in dem kleinen Hotel ganz in der Nähe der Haftanstalt. Dass sie Madame Nancy Fiocca sei, wohnhaft in Marseille, wie es in ihrem Ausweis steht, dürfte sich da
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