Codename Hélène
geliebte Mutter, mein sehr lieber kleiner Bruder, mein geliebter Vater. Ich werde sterben! Ich bitte Euch, vor allem Dich, meine liebe Mutter, tapfer zu sein. Ich bin es und ich möchte es ebenso sein wie diejenigen, die vor mir gestorben sind. Natürlich würde ich gerne leben. Aber ich wünsche mir von ganzem Herzen, mein Tod möge zu etwas gut sein. Ich hatte keine Zeit, Jean zu umarmen. Leider. Ich hoffe, daß Dir alle meine Sachen geschickt werden. […] Dich, lieber Vater, dem ich ebenso wie meiner lieben Mutter manchen Kummer bereitet habe, grüße ich ein letztes Mal. Du sollst wissen, daß ich mein Bestes getan habe, um dem Weg zu folgen, den Du mir gewiesen hast. Einen letzten Gruß an all meine Freunde und an meinen Bruder, den ich sehr liebe. Er soll gut studieren, um später ein rechter Mann zu sein. Siebzehn und ein halbes Jahr, mein Leben ist kurz gewesen, ich bedaure nichts, nur daß ich Euch alle verlassen muss. […] Mutter, worum ich Dich bitte und was Du mir versprechen mußt, ist, tapfer zu sein und Deinen Schmerz zu überwinden. Mehr kann ich nicht schreiben. Ich verlasse Euch alle, indem ich Euch mit meinem Kinderherzen umarme. Seid tapfer!
Euer Guy, der Euch liebt«
Die Übersetzung des Briefs stammt von einem deutschen Hauptmann. Er hieß Ernst Jünger.
Bislang ist Nancy Fiocca weder der Gestapo noch den Vichy-Gendarmen aufgefallen. Schönheit und Eleganz machen sie augenscheinlich unverdächtig, und ihr Status als angesehene Ehefrau eines angesehenen Geschäftsmanns verstärkt diesen Eindruck. Im November 1942 fährt sie ohne Henri drei Tage nach Paris, um sich, wie sie ihren Freundinnen sagt, zu amüsieren. In Wirklichkeit trifft sie Helfer des Pat-O’Leary-Netzwerks. Der mit ihrem Mann gemeinsam verfasste Abschiedsbrief liegt bereit, falls ihr etwas zustoßen sollte, aber es geht alles gut, nichts passiert. Zurück in Marseille, wechselt sie wieder in die Rolle von Madame Fiocca. Geht einkaufen wie andere Frauen auch, was mühsam geworden ist wegen der Beschränkungen und Engpässe. Bedankt sich herzlich und nimmt das Angebot an, als einmal ein schwarzer PKW neben ihr hält, drinnen ein paar Deutsche in Zivil, offensichtlich Gestapo, die höflich fragen, ob sie die junge Frau nach Hause fahren dürfen, sie habe ja wohl schwer zu schleppen.
Eine Woche vor Weihnachten muss sie erneut verreisen, erneut ist der eigentliche Zweck der Reise geheim. Wenn auch von anderer Qualität und von anderer Brisanz. In Névache, nahe Briançon, besaß Henri Fiocca ein Chalet. Zuletzt waren sie im Sommer dort gewesen Und natürlich oft im Jahr zuvor, 1941 , in dem Nancy Fiocca zwar in eine wesentliche Rolle des Fluchthilfenetzwerks gewachsen war, in dem sie wie die anderen ihrer Mitstreiter Abend für Abend auf die Durchsagen von »Ici Londres« der BBC gehört hatte, in dem es aber kaum Hoffnung gab auf eine Wende im Krieg, weil die Deutschen scheinbar unaufhaltsam siegten. Griechenland war erobert, Jugoslawien besetzt, die Sowjetunion angegriffen worden. Auf einem im Juli 1941 aufgenommenen Foto stehen sie inmitten einer Bergwiese, Rechen in der Hand, hinter ihnen Picon, ihr kleiner Hund, und blinzeln in die Sonne. Jetzt soll Nancy allein dorthin fahren. Ihr Mann bringt sie zum Bahnhof. Sie nimmt einen großen Koffer mit und einen kleinen. Dass der große, den Henri trägt, leer ist, sieht man dem nicht an. In Névache hat seine Frau eine Verabredung, die sie unbedingt einhalten muss. Eine Verabredung mit dem Schlachter des Dorfs. Im Auftrag von Madame hatte er in den vergangenen Monaten ein Ferkel gemästet, das sie auf dem Schwarzmarkt beschafft hatte. Sie sei genial darin gewesen, schreibt Elisabeth Haden-Guest, auch das auf dem Schwarzmarkt besorgen zu können, was eigentlich nicht mehr zu bekommen war. In dem Fall ein Ferkel.
Als Gegenleistung darf der Metzger die Hälfte des Schweins, mittlerweile fett und groß und schlachtreif, für sich behalten. Ihre Hälfte will Nancy Fiocca, in einzelne Teile zerlegt, im großen Koffer mitnehmen nach Marseille. Gedacht war das Fleisch als Festmahl für die Fioccas und Freunde an Weihnachten, getreu ihrer Lebensphilosophie, egal, wie schlecht die Zeiten auch waren oder sind: Lasst uns essen, trinken, fröhlich sein, denn schon morgen könnten wir tot sein.
Das Schwein wird geschlachtet, Nancy Fioccas Anteil von sechzig Kilo, vor Ort eingewickelt in Tücher, im Koffer verstaut. Den kann sie allein nicht heben. Der Metzger bringt Madame zum Zug, wünscht
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