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Codename Hélène

Codename Hélène

Titel: Codename Hélène Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Juergs
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frohe Weihnachten, hievt den schweren Koffer ins Netz über ihren Sitz. In Marseille, wo der Zug endet, wird Henri sie abholen. Notfalls müssen die vier jungen Männer den Koffer tragen, die sich von Marseille aus absetzen wollen, um dem Service du Travail Obligatoire , der Zwangsarbeit, zu entgehen. Sie sitzen verteilt in verschiedenen Abteilen, sehen aus wie Bauern auf dem Weg in die Stadt, fallen bei Kontrollen nicht auf. Nancy Fiocca hatte sie ein paar Nächte lang im Chalet untergebracht und hilft ihnen jetzt weiter bis nach Marseille.
    In Aix-en-Provence steigt ein eleganter junger Mann in den Zug und setzt sich zu ihr ins Abteil. Er spricht nahezu perfekt Französisch. Ist aber kein Franzose, wie Nancy Fiocca vermutet. Etwa eine Stunde vor der Ankunft in Marseille teilt ein Schaffner ihnen mit, dass über die Stadt eine Ausgangssperre verhängt worden sei. Was für Nancy und ihr Schwein bedeutet, dass Henri sie nicht abholen kann auf dem Gare Saint-Charles. Wie soll sie jetzt den Koffer schleppen? Nancy besinnt sich kühl auf ihre Waffen, schlüpft in die Rolle »Schwaches Frauchen« und beginnt mit ihrem Abteilnachbarn zu flirten. Das wirkt. Als der Zug in den Bahnhof einläuft, hilft ihr der Gentleman mit dem schweren Koffer, trägt ihn bis zum Ausgang.
    Dort stehen Gendarmen und greifen sich Reisende für Kontrollen heraus. Auch den, der Nancy Fioccas Gepäck schleppt. Sie verlangen seine Papiere und wollen auch den Inhalt des Koffers überprüfen. Sein Ausweis aber reicht ihnen offensichtlich. Der weist ihn aus als Mitglied der Gestapo. Die Franzosen salutieren. Was im Koffer ist, interessiert sie nicht mehr. Nancy Fiocca bedankt sich für die freundliche Hilfe und nimmt die Einladung des Deutschen an für ein Abendessen am übernächsten Tag, wenn er dienstfrei hat. Au revoir Monsieur, à bientôt Mademoiselle. Selbstverständlich erschien sie nicht zum Rendezvous.
    Bleiben das geteilte Schwein und die vier Franzosen irgendwo hinter ihr in der Bahnhofshalle und natürlich die Ausgangssperre. Inzwischen ist es dunkel. Nancy bewahrt die Ruhe. Sie hat einen Plan. Das Hôtel Terminus gegenüber dem Bahnhof ist, wie sie weiß, durch einen schmalen Tunnel erreichbar, in dem Pagen das Gepäck von abreisenden oder ankommenden Gästen zu transportieren pflegten. Diesen Weg vom Bahnhof ins Hotel nehmen sie jetzt mitsamt ihrer schweren Last.
    Ein einziges Zimmer ist noch frei für die Nacht, erst am kommenden Tag reserviert. Offiziell kann sie es nicht buchen, denn vier Männer und eine Frau gemeinsam in einem Zimmer wäre selbst in Marseille ein wenig zu viel der Libertinage. Also macht sie es inoffiziell. Schmiert den Nachtportier, dessen Bruder sie kennt, bekommt einen Schlüssel, und alle fünf plus Schwein verbringen die Nacht gemeinsam. Madame im Bett, die Männer auf dem Boden. Am anderen Morgen, als bei Tagesanbruch die Ausgangssperre aufgehoben ist, holt Henri Fiocca sie ab. Die Arbeitsdienstverweigerer verschwinden durch den Hinterausgang und tauchen unter im alten Hafenviertel.
    An Weihnachten wurde das Schwein seiner Bestimmung zugeführt und verspeist. Es war ein eher wehmütiges Festmahl, weil Nancy und Henri Fiocca endgültig beschlossen hatten, Marseille zu verlassen, nach London zu fliehen. Sie würden sich aber schon zuvor trennen, so wie es zur Tarnung in Nancys Abschiedsbrief stand. Der Verräter Harold Cole hatte sie zwar nur ein einziges Mal gesehen, aber der Gestapo würde ein leiser Verdacht genügen, und dann dürfte sie versuchen, in einem ihrer Folterkeller mehr zu erfahren. Im Brief steht, dass sie für immer nach Paris ziehen wolle. Das erzählte sie außerdem einigen Freundinnen, von denen sie wusste, dass die solchen Klatsch liebten, also nicht für sich behalten würden, vorgeblich schon aus Mitleid mit dem armen Henri, der verlassen in Marseille zurückbleiben sollte.
    In Wirklichkeit machte sie sich auf den Weg in die andere Richtung. In Richtung spanische Grenze. Die Alternative, über die Savoyer Alpen in die Schweiz zu fliehen und von dort aus ganz legal nach England zu fliegen, gab es nicht mehr. Zu streng inzwischen die Kontrollen bereits im Vorfeld der Grenze. Französische Gendarmerie in enger Zusammenarbeit mit der Sicherheitspolizei (Sipo) und dem Sicherheitsdienst ( SD ) der SS ließen nur noch Franzosen passieren, die nachweisen konnten, im Grenzgebiet zu wohnen. Selbst jene Flüchtlinge, die es dank der Fluchthelfer doch schafften, waren nicht etwa in Sicherheit, sobald

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