Codename Hélène
Gestapo-Folterkeller gequält werden würde, ahnte er natürlich nicht. Er radelte zum Gefängnis, verlangte herrisch den Direktor zu sprechen, was er auch schaffte, und legte bei dem einen bühnenreifen Auftritt hin: Pierre Laval, der Ministerpräsident, derzeit auf Staatsbesuch in Berlin – worüber er in der Zeitung gelesen hatte –, sein Kumpel Pierre würde ziemlich sauer reagieren, falls irgendein Provinzbulle die Geliebte seines Freundes verdächtigen würde, eine Hure zu sein oder gar eine Attentäterin. Er habe, das gebe er zu, eine Liebschaft mit Nancy Fiocca, von der selbstverständlich Monsieur Fiocca nichts ahnte, weshalb der natürlich am Telefon bestritt, sich von ihr im Zorn getrennt zu haben.
Um sich und ihn zu schützen, habe sie die Geschichte von einem Streit im Zug erfunden. Ihr Gemahl sei in der Tat nicht im Zug gewesen, sondern ginge in Marseille seinen Geschäften nach. Monsieur le Directeur werde als Mann von Welt jedoch wohl verstehen, dass es wirklich, speziell hier im heiteren Süden Frankreichs, noch kein Verbrechen war, eine geheime Affäre zu haben. Über die Schwäche des Fleisches, nicht wahr, müsse man unter gestandenen Männern ja nicht diskutieren.
Gern dürfe er, und das war dann der entscheidende geniale Bluff, gern dürfe er seinen Freund Pierre Laval in Berlin aber anrufen. Der wäre zwar sicher nicht erfreut, wegen einer solchen Lappalie in seinen Unterredungen mit zum Beispiel Hitler gestört zu werden, aber das sei nicht seine Entscheidung, sondern die des Herrn Präfekten, bitte sehr. Um bei dem eventuell doch noch vorhandene Zweifel auszuräumen, zeigte Pat O’Leary ihm seine falschen Papiere, die ihn als Mitglied der berüchtigten Milice auswiesen. Vor der hatten mittlerweile sogar höhere Polizeioffiziere Angst.
Der Präfekt verzichtete auf das Telefonat nach Berlin und gab Anweisung, Madame sofort freizulassen. Pat O’Leary versicherte ihm daraufhin, dass er bei Gelegenheit die souveräne Art lobend erwähnen werde, mit der Monsieur le Directeur diese delikate Angelegenheit gemeistert habe.
Nancy lachte. Die Geschichte gefiel ihr. Die passte zu ihren Vorstellungen von einem gelungenen Abenteuer. Geschichten dieser Art hatte sie immer gemocht. Sie vergaß für eine Zigarettenlänge, für die Dauer einer Gitanes, wie knapp es diesmal gewesen war. Ihr Lebensretter brachte sie in das Versteck, wo die anderen warteten. Am nächsten Tag sollte erneut versucht werden, die Pyrenäen zu erreichen. Pat O’Leary, der trotz aller Warnungen, auch aus England, nicht mit ihnen fliehen, sondern die Flüchtigen nur bis zur Grenze bringen wollte, stieg ebenfalls in den Zug. Ab jetzt hieß Nancy Fiocca laut ihrem gefälschten Ausweis Lucienne Suzanne Carlier. Ihr echter lag immer noch bei der Polizei in Toulouse. Am liebsten hätte sie den vor der Abreise abgeholt, doch Pat O’Leary riet ihr dringend davon ab, noch einmal das Schicksal herauszufordern.
Am nächsten Tag fahren sie los Richtung Perpignan, jeweils vier von ihnen, darunter ein französischer Funker und ein neuseeländischer Pilot, verteilt in verschiedenen Waggons. Alles scheint gut zu gehen. Plötzlich reißt einer der französischen Schaffner die Tür zum Abteil auf und warnt laut, die Deutschen hätten befohlen, den Zug zu stoppen, und würden gleich mit den Kontrollen beginnen. Unmittelbar danach hält der Zug tatsächlich. Die SS ist schon da. Links neben den Gleisen stehen die Soldaten. Nancy alias Lucienne öffnet das Fenster auf der rechten Seite, wo sich direkt neben der Böschung Felder erstrecken, lässt sich fallen und rennt los. Schüsse aus Maschinenpistolen. Rufe auf Deutsch und Rufe auf Französisch, wahrscheinlich von Pat oder dem Polizisten, durch dessen Hilfe die Briten befreit worden waren. Alle drei schaffen es nach oben auf einen Weinberg. Brechen außer Atem zusammen und bleiben liegen. Der französische Ex-Gendarm schleicht zurück, um nach den anderen zu schauen. Er kommt nicht mehr wieder. Nach dem Krieg erfuhr Nancy, dass er festgenommen und nach Deutschland deportiert wurde und in einem Konzentrationslager gestorben war.
Als es dunkel wird, brechen die Deutschen die Verfolgung ab. Inzwischen sind die anderen Flüchtlinge dazugekommen. Pat O’Leary drängt zum Aufbruch. Egal, wie erschöpft sie auch sein mögen, sie müssen sich auf den Weg machen im Schutz der Nacht und bis zum nächsten Morgen ein Versteck gefunden haben. Noch sind sie nicht gerettet. So schnell geben die Feldgrauen
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