Codename Hélène
bestimmt nicht auf. Nancy Fiocca stellt fest, dass sie beim Sprung aus dem Zugfenster ihre Tasche verloren haben muss. In der war ihr gesamter Schmuck. Diamantene Ringe und Broschen und eine Uhr, die ihr Henri geschenkt hatte.
Dringender brauchen sie einen ortskundigen Führer über die Berge. Ohne den haben sie keine Chance. Denn ihr spanischer Begleiter aus dem Zug ist, ebenso wie vier der Engländer, den Deutschen in die Hände geraten. Einer von O’Learys Leuten, Deckname Guy, soll sich nach Perpignan durchschlagen, dort einen neuen Guide finden und Proviant für die Flucht. Was sie dabeihatten, liegt in ihren Koffern im Zug. »After a council of war it was decided, that Guy should go back to Perpignan to get another guide and food for the party. For several days they awaited the return of Guy, but in vain«, steht in der Akte »Fiocca, Mme. Nancy Grace Augusta « des britischen Geheimdienstes. Und darunter die Bestätigung, dass Guy und Jean verhaftet worden waren – sie hatten also vergeblich auf seine Rückkehr gewartet. Jean allerdings konnte entkommen.
Zwei Tage lang bleiben sie in einem verlassenen Heuschober. Es ist saukalt, sie haben nichts zu essen und nichts zu trinken, und weil sie nicht wissen, ob noch immer nach ihnen gesucht wird, teilt Pat O’Leary die Männer zur Wache ein. Nichts passiert. Also weiter. Aber wohin? Nach Canet-Plage, dem Endpunkt der anderen Route der Pat Line . Da gibt es ein Safe House , wo sich jene versteckt hielten, die nicht über die Berge, sondern auf dem Seeweg das Land verlassen wollten. Pat und Nancy und die übrigen vier Briten brauchen fast eine Woche, weil sie Straßen meiden müssen, weil sie sich mühsam über Felder und über Hügel durchschlagen müssen, schlafen tagsüber in Scheunen, pflücken unterwegs vor lauter Hunger Salatköpfe vom Feld, essen die roh, kommen schließlich an, erschöpft, ausgehungert, ungewaschen, stinkend. Wer, verdammt, hat ihre Flucht verraten? Es konnte kein Zufall sein, dass die Deutschen ausgerechnet den Zug gestoppt haben, in dem sie Richtung Grenze gefahren sind. Pat O’Leary will mehr darüber erfahren. Er verabredet sich mit einem Kontaktmann in einem Café. Da wartet bereits die Gestapo auf ihn.
Ob Harold Cole es war oder Roger der Legionär, der Pat O’Leary verriet, weiß man nicht. Vier Tage nach Rodocanachis Festnahme jedenfalls, am 2 . März 1943 , wurde auch der Chef des Netzwerks O’Leary festgenommen. Weil er keine Namen preisgab, so wie auch Donald Caskie, der ebenfalls verhaftet worden war, sperrten sie ihn mal sieben Stunden lang in einen Kühlschrank, mal übten sie mit ihm, was Jahrzehnte später die CIA mit Verdächtigen machen sollte – water boarding . Den Kopf so lange unter Wasser zu drücken, bis das Opfer aus Angst, zu ertrinken, zu reden beginnt. O’Leary redete nie.
Die Folterknechte wollten vor allem von ihm wissen, wer diese geheimnisvolle »Weiße Maus« war, die in den Akten erwähnt wurde. Auf ihren Kopf hatten sie fünf Millionen Francs ausgesetzt, rund 250 0 00 Reichsmark. Solche Summen aufzubringen, war problemlos für die Besatzer. Erstens musste Frankreich täglich ja zwischen 300 und 400 Millionen Francs für die Kosten der Besatzung bezahlen, und zweitens hatten sie seit der Niederlage eigenmächtig den Wechselkurs festgelegt. In Friedenszeiten lautete der 1 : 12 , jetzt 1 : 20 . Weil sie genügend Geld besaßen, wurde auch das Kopfgeld für abgesprungene oder abgeschossene britische Piloten erhöht. Verräter bekamen jetzt eine Million Francs, also 50 0 00 Reichsmark. Ihre in die Résistance eingeschleusten Doppelagenten entlohnten sie hemmungslos: Die in ihrem Sinne Besten bekamen vier Millionen Francs auf ein Konto in der Schweiz überwiesen.
Weil Pat O’Leary trotz aller Schmerzen schwieg, deportierten sie ihn ins KZ Mauthausen, dann nach Natzweiler-Struthof, dann nach Dachau. Er überlebte, wurde im April 1945 befreit. Es dürfte ihm eine große innere Freude gewesen sein, auf Bitten der französischen Polizei 1946 die Leiche eines gewissen Harold Cole zu identifizieren, der bei einer Razzia in Paris, wo nach untergetauchten deutschen Gestapo-Agenten gesucht wurde, erschossen worden war und den er unter dem Namen Paul kannte. Den anderen Verräter, Roger den Legionär, hatte der Maquis in der Schlacht auf dem Mont Mouchet erwischt und »in an appropriate manner«, wie das mit britischem Understatement formuliert in den Akten steht, auf gebührende Weise, behandelt. Unter der
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