Codename Hélène
leicht durch einen Anruf nachprüfen lassen, erklärt sie den Polizisten.
Einer der beiden Kommissare, die sie verhören, verlässt daraufhin das Zimmer, um zu telefonieren, kehrt nach wenigen Minuten zurück, schlägt ihr ins Gesicht und schreit sie an, er habe mit Henri Fiocca gesprochen. Von wegen, ihr Ehemann habe sich im Zug mit ihr gestritten. Monsieur Fiocca habe Marseille nicht verlassen und ausgesagt, dass seine Frau verreist sei. Wahrscheinlich nach Paris. Sie solle also aufhören zu lügen und zugeben, dass sie in Wahrheit zu jener Terroristenbande gehöre, die in der vorhergehenden Nacht ein Kino in Toulouse in die Luft gejagt hatte.
Sie könne schon deshalb nichts zugeben, antwortet sie gelassen, weil sie außer dem Bahnhof niemanden und nichts in Toulouse kenne, geschweige denn dort ein Kino. Und zu Terroristen habe sie auch keine Verbindung. Wiederholt stur ihre Aussage, unterwegs gewesen zu sein mit ihrem Mann. Der würde das wahrscheinlich einfach deshalb leugnen, weil er ihr immer noch böse sei. Keiner glaubt ihr. Sie wird zurückgebracht in ihre Zelle. Eine lange Nacht beginnt. Ohne Licht. Ohne Wasser. Ohne Brot. Ohne Toilette. Ihr Widerstand soll gebrochen werden. Am anderen Morgen setzen sie das Verhör fort. Inzwischen wisse man, wer sie in Wirklichkeit sei: Eine Hure aus Lourdes. Huren in Lourdes, versucht Nancy Fiocca einen Scherz, gibt es tatsächlich Huren am heiligen Ort Lourdes? Und beteuert, niemals im Leben in Lourdes gewesen zu sein. Man werde sie schon noch zum Reden bringen, sagt einer und schlägt sie, ganz bestimmt. Auch herausfinden, wie sie sich den Ausweis der echten Nancy Fiocca besorgt habe. Nach wie vor bekommt sie nichts zu essen, nichts zu trinken. Wenigstens erlauben sie ihr, unter Bewachung auf die Toilette zu gehen.
Auf dem Weg zum Klo sieht sie Pat O’Leary, der auf dem Flur zwischen zwei Uniformierten steht. Auch er verhaftet? Pat lächelt ihr zu. Sie erwidert sein Lächeln nicht. Den Mann darf sie nicht kennen. Bisher ist sie stur bei ihrer Geschichte geblieben, und das will sie auch durchhalten. Falls durch sein Grinsen herauskäme, dass sie sich kennen, dann wird es vorbei sein, mit beiden. Dann dürfte es nicht mehr lange dauern, bis deutsche Polizei eintrifft, vertreten durch die Verhörspezialisten der Gestapo, und beide unter ihre Obhut nimmt. »I was furious and ignored him«, schreibt sie, wütend sei sie gewesen und habe ihn nicht beachtet.
O’Leary sagt irgendwas zu den Gendarmen, kommt auf sie zu, schiebt ihren Bewacher achtlos zur Seite, lächelt erneut und zischt ihr dann, unhörbar für den, zwischen den Zähnen sinngemäß zu, dass sie, verflucht noch mal, endlich zurücklächeln solle, denn die hier glaubten, sie sei seine Geliebte. Sie gehorcht, hat aber nicht die geringste Ahnung, was er bezweckt mit dieser Vorstellung. Von der Toilette geht sie wieder zurück, immer noch bewacht, in den Verhörraum. Aber von dort wird sie, diesmal höflich, ins Büro des Polizeipräfekten geführt. Am Fenster steht Pat O’Leary. Der Franzose rügt sie streng, weil sie seine Männer angelogen habe, aber übergibt sie zu liebenden Händen O’Leary, der anschließend mit ihr eng umschlungen das Gebäude verlässt. Jetzt müssen sie ihr deponiertes Gepäck abholen – Koffer, Schmuck, Geld, Ausweis – und dann ihre Gruppe treffen, aber Nancy will zunächst und augenblicklich etwas ganz anderes wissen.
Und so erzählte Pat O’Leary, wie es ihm gelungen war, sie zu befreien. Als sie am Tag zuvor nicht am verabredeten Ort in Toulouse erschienen war, von wo aus sie zusammen mit den anderen aufbrechen sollte, hatte er noch einen Tag abgewartet und dann, als er noch immer nichts von ihr hörte, Erkundigungen eingezogen. Dabei erfahren, dass sie in Haft saß, aber nicht etwa, weil es um ihre geplante Flucht ging oder gar um ihre Rolle im Netzwerk der Pat Line , sondern weil die Gendarmen sie für eine Attentäterin und eine Hure hielten. Zwar war er davon überzeugt, dass sie sich beim Verhör nicht verraten, schon gar nicht irgendwelche Namen preisgeben würde, denn wie überlegt sie in gefährlichen Situationen agierte, hatte er bei der Flucht von Ian Garrow ja erlebt.
Aber er wusste auch, dass er schnell handeln musste, bevor die französischen Gendarmen sie der Gestapo übergaben. Deren Methoden waren ihm bekannt. Deren Verhöre würde selbst der tapferste Mann nicht lange aushalten. Geschweige denn eine Frau. Dass er selbst bald in einem der
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