Codename Hélène
war und auch tote Juden aus der Öffentlichkeit zu verschwinden hatten, wurden wie in der Comédie Française leichte Komödien gespielt. Das alltägliche Leben war schließlich schwer genug. Gar zu frech durfte es nicht werden: In einer harmlosen Posse von Eugène Labiche, verfasst im vorletzten Jahrhundert, fiel in einem Dialog der Satz: »Wen sehe ich da im Foyer? Den schändlichen Adolphe«, woraufhin der deutsche Botschafter Otto Abetz anordnete, in der nächsten Vorstellung sei jener schändliche Adolphe umzutaufen in Alfred.
Die Pariser Zeitung berichtete auch darüber. Sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch. Ob sich die gedruckte Auflage – angeblich täglich 50 0 00 für 20 Pfennige auf Deutsch und 7000 für zwei Francs auf Französisch – verkaufte oder nicht, blieb bis zur Einstellung des Blatts nach der Befreiung unwesentlich. Der Etat des Verlegers Joseph Goebbels war unerschöpflich, Controller hatte er nicht zu befürchten. Im Feuilleton schlüpfte journalistisches Nazi-Pack in des Kaisers neue Kleider, täuschte geistige Freiheit statt zeitgeistiger Linientreue vor. Prominente deutsche und französische Antisemiten hatten einen gemeinsamen Feind – die sogenannte jüdische Weltverschwörung. Gegen den schrieben sie an. An Anzeigen mangelte es nicht. Viele kamen aus der französischen Großindustrie. Freiwillig.
Die SS und die Gestapo schrieben sich ihre Stücke selbst. Sie gaben keine Vorstellungen für intellektuelle Kollaborateure, und an Rezensionen hatten sie gleichfalls kein Interesse. Sie holten sich für Vorstellungen in den Kellerbühnen unter ihren Hauptquartieren das passende Ensemble direkt von der Straße. Wer ihren Regieanweisungen nicht aufs Wort gehorchte, wurde für immer aus dem Programm gestrichen. Ungefähr 30 0 00 Franzosen sind zwischen 1940 und 1944 zu Tode gefoltert oder hingerichtet worden. Eine Frau zum Beispiel wurde über Nacht am Fensterriegel aufgehängt und am nächsten Morgen als Leiche entsorgt. Anderen Gefangenen brachen Folterer die Glieder, schleppten sie anschließend in die Kulisse, zum Beispiel in einen Stall, wo sie mit kochendem Wasser übergossen oder einfach bei lebendigem Leib angezündet wurden. Für jeden bei einem Attentat getöteten deutschen Soldaten holten sie sich aus dem Publikum willkürlich auswählend Unschuldige und exekutierten die auf offener Bühne vor aller Augen oder knüpften sie zur Abschreckung am nächsten Laternenpfahl auf. Eine Todesquote von eins zu fünfzig durchgesetzt zu haben gegen Hitlers ursprüngliche Anweisung, hundert Franzosen für jeden erschossenen deutschen Soldaten büßen zu lassen, hielt sich die Wehrmacht unter dem Motto »Wir sind hier doch nicht in Polen!« als mitmenschliche Geste zugute. Weil sie in einigen Fällen »nur« zehn Hinrichtungen befohlen hatten statt der verlangten fünfzig, plädierten nach dem Krieg die Schuldigen vor Gericht auf nicht schuldig.
Einer jener Unschuldigen, deren Leben vor einem Exekutionskommando endete, war der 17 -jährige Guy Môquet aus Paris. Verhaftet wurde er, als er vom Rang eines Kinosaals Flugblätter der verbotenen Kommunistischen Partei mit Parolen gegen die Besatzer in den Saal regnen ließ, und nach einem kurzen Prozess trotz seiner Jugend zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt. Ein Jahr danach, im Oktober 1941 , erschossen Attentäter in Nantes den Stadtkommandanten Oberstleutnant Karl Hotz. Als Vergeltung verlangte Adolf Hitler, 150 französische Häftlinge hinzurichten. General Otto von Stülpnagel, Militärbefehlshaber in Frankreich, handelte seinen »Führer« auf 50 Menschenleben herunter. Darauf war der überzeugte Nazi stolz, aber ihm ging es nicht etwa um das Leben Unschuldiger, sondern darum, das gute Verhältnis zwischen deutschen Truppen und kollaborationswilligen Pétain-Franzosen nicht zu gefährden. Öffentliche Hinrichtungen hätten die Stimmung umschlagen lassen können.
Zwei Tage nach dem Anschlag von Nantes wurden fünfzig willkürlich ausgewählte Gefängnisinsassen von deutschen Soldaten per Standgericht erschossen. Unter ihnen Guy Môquet. Man erlaubte ihm, einen letzten Brief zu verfassen. »Ma petite maman chérie, mon tout petit frère adoré, mon petit papa aimé. Je vais mourir«,schrieb er, und das blieb lebendig über seinen Tod hinaus. Der damalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy ordnete 2007 an, dass jedes Jahr zum Gedenken an Guy Môquet seine Abschiedsworte an französischen Schulen verlesen werden sollen:
»Meine
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