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Codename Hélène

Codename Hélène

Titel: Codename Hélène Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Juergs
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wie sie es oft genug beim Training fürs silent killing geübt hat?

KAPITEL 6
    Die lautlose Killerin
    D ass die Befreiung Frankreichs bevorsteht, wird mit den ersten drei Zeilen des Gedichts »Chanson d’Automne« von Paul Verlaine angekündigt: »Les sanglots longs / des violons / de l’automne.« In Moll schwebt sein Herbstlied. Die Melancholie fallender Blätter färbt den Klang. Jetzt klingt – Adieu Tristesse! – jeder Akkord aufblühend in Dur. Weckt Hoffnung. Macht Mut. Verspricht Sieg.
    In Großbritannien gedruckte Flugblätter rufen in großen Lettern dazu auf, die verfluchten Boches zu erwürgen, zeigen plakativ gezeichnet das in Angst erstarrte Gesicht eines deutschen Soldaten, dem symbolisch von der Résistance die Kehle zugedrückt wird. Eine eindeutige Botschaft. Die von Verlaine ist subtiler, aber die Aussage ebenso eindeutig. Nach vier Jahren Winter wird mit dem Herbstlied im Sommer endlich der Frühling der Grande Nation eingeläutet. Der Vergleich hinkt verwegen, aber er passt. Klang war dem Poeten stets so wesentlich wie Inhalt.
    Bald wird es so weit sein, lautet die darin verborgene Nachricht, die am 1 . Juni 1944 von der BBC gesendet wird. Dass dieses Lied eine andere Bedeutung haben würde als die von langen Seufzern der Geigen im Herbst kündende Sprachmelodie Verlaines, ahnte die Abwehr. Zwar konnten die Deutschen übersetzen, was sie da hörten, aber die Botschaft zu entschlüsseln gelang ihnen nicht. Als vier Tage danach von der BBC die zweite Strophe des Herbstlieds ausgestrahlt wurde, kurz vor Mitternacht am 5 . Juni, genau um 23 . 15 Uhr – »Blessent mon cœur / d’une langueur / monotone « –,hätte ihnen auch eine Dekodierung des Rätsels oder der vielen folgenden Botschaften nichts mehr geholfen. Dafür war es jetzt zu spät. Jene Schluchzer, deren monotone Wehmut das Herz verwundet, waren am Morgen danach, am 6 . Juni, deutlich zu hören, und es waren keine Geigentöne.
    Sondern stampfende Motorengeräusche von 6998 Schlachtschiffen und Kreuzern und Zerstörern und Truppentransportern und Landungsbooten und das dumpfe Dröhnen von 12 8 37 Flugzeugen, die den Himmel verdunkelten wie Krähenschwärme und vom Himmel regnen ließen Bomben und Panzer und Jeeps und Fallschirmjäger. Es war das Donnern aus Bordgeschützen, es war das Heulen von Granaten. Es waren die explodierenden Bomben, das Trommelfeuer von Maschinengewehren aus den Bunkern des Atlantikwalls, und es waren die Schmerzensschreie von Verwundeten und die letzten Seufzer von Sterbenden. An der Küste der Normandie hatte mit der Operation Overlord die Landung begonnen. Bereits am ersten Tag der Befreiung verloren ungefähr elftausend alliierte und fast neuntausend deutsche Soldaten ihr Leben.
    Parallel zu den hör- und sichtbaren Attacken an der Kanalküste werden in den Nächten danach, unsichtbar für den Feind, in seinem Rücken andere allliierte Einheiten in Frankreich landen – Jedburghs . Diese interne Bezeichnung für geheime Drei-Mann-Kommandotrupps leitete sich ab von einer Stadt in den schottischen Highlands, Jedburgh, wo die Männer monatelang für ihren Einsatz trainiert hatten. Sie starteten mit B 24 -Liberatorsvom Fliegerhorst Harrington aus nach Frankreich. Eine der ersten dieser Dreierbanden war in der Nacht vor dem D-Day unter dem Codenamen Hugh in der Nähe jenes Ortes gelandet, in dem Hélène bei ihrer Radtour den Funker gesucht hatte, in Châteauroux.
    Eine Ladung Jedburghs, abgesetzt per Fallschirm, bestand immer aus einem Amerikaner, einem Briten, einem Franzosen. Bestens ausgebildet vom amerikanischen Office of Strategic Services ( OSS ), der britischen Special Operations Executive ( SOE ) oder den Forces Françaises Libres ( FFL ) und bestens vertraut mit allen Tricks der geheimen Kriegführung. Sie trugen die Uniform des Landes, zu dem sie gehörten. Nur zwei weiße Buchstaben, SF für »Special Forces«, im roten Kreis auf dem Kragen unterschieden sie von anderen Offizieren der regulären Armeen. Sie wussten, dass ihre Uniformen sie nicht vor einem Standgericht bewahren würden. Hitler hatte bekanntlich befohlen, als feindliche Terroristen selbst die auf der Stelle zu erschießen, die ausweislich ihrer Uniformen zu den alliierten und dadurch von der Genfer Konvention geschützten Armeeeinheiten zählten. Doch von den 83 Jedburgh -Teams, die ab Juni und bis zur Befreiung Frankreichs Attacken des Widerstands mit denen der Landungstruppen koordinierten, wurde nur ein einziger Offizier gefangen

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