Codename Hélène
Pause zu machen, die Beine schwer, müde, ausgelaugt, aber sie ahnt, falls sie zu oft anhält, um sich auszuruhen, würde sie sich wahrscheinlich nicht mehr auf den Sattel setzen. Also steigt sie selten ab. Drei Tage nach ihrer Abfahrt kommt sie wieder an. In 72 Stunden hat sie fast fünfhundert Kilometer zurückgelegt. Als sie absteigt, ist sie völlig fertig, kann sich kaum noch bewegen, alles tut weh. »When I got off that damned bike I felt as if I had a fire between my legs and the inside of my thigs were raw«, und weil sie sich wund gescheuert hat, bleibt sie einfach nur liegen. Überlässt Hubert die Organisation der angekündigten Unterstützung aus der Luft und Gaspard die Strategie gegen den nächsten Angriff der Deutschen am 20 . Juni. Seine Taktik des geordneten Rückzugs funktioniert erneut. Der Gegner stößt ins Leere. Gaspard hat ihm das weite Feld überlassen. Es wird der letzte gefühlte Sieg der Deutschen sein. Denn bald beginnt deren Rückzug. Aus ganz Frankreich.
Über die Verluste beider Seiten in den Mont-Mouchet-Schlachten existieren widersprüchliche Zahlen. Farmer spricht ganz allgemein von vielen Toten auf deutscher Seite, Gabriel Geneix, damals unter dem Decknamen Eloy ein Truppenführer der Résistance, in seiner heroischen Bilanz Les Sutiers de la Gloire davon, dass den etwa 2700 Maquisards ungefähr 11 0 00 bis 15 0 00 Deutsche gegenübergestanden hätten. Bei denen habe es 1400 Gefallene und 1700 Verwundete gegeben, 160 Tote und 100 Verwundete auf französischer Seite. Was nach dem märchenhaften tödlichen Sieg der Gallier unter Vercingetorix gegen die römischen Eroberer unter Julius Cäsar klingt. Der britische Historiker H. R. Kedward kommt in seinen Recherchen auf andere Zahlen: »At Mont Mouchet the combatant and civilian dead were numbered at over 160 , with an estimated 100 Germans killed in the fighting« – also deutsche Gefallene schätzungsweise 100 , insgesamt 160 Tote auf französischer Seite.
Das dürfte eher stimmen. Es entspricht in etwa dem, was im Museum auf dem Mont Mouchet dokumentiert ist: 2700 Mann der Forces Françaises de l’Intérieur standen rund 3000 Mann der Deutschen und der Milice Française gegenüber. Deren Verlustzahlen sind »inconnues«, also unbekannt, die des Maquis betrugen: 238 Tote, 180 Verwundete. Auf dem Plateau erinnert ein riesiger Gedenkstein des Bildhauers Raymond Coulon die Nachgeborenen an jene grauenvollen Zeiten, denen sie entronnen sind. Zu den Unsterblichen, die jedes Jahr im Juni bei den Feiern für Résistance und Maquis auf dem Mont Mouchet geehrt werden, gehört auch Nancy Wake alias Mademoiselle Andrée. Und in der Galerie der unvergessenen und unvergesslichen Helden an der Wand hängt auch ein großes Foto von ihr.
Die sitzt, einigermaßen erholt und schmerzfrei, drei Tage nach ihrer Rad-Tortur, beim Frühstück. Statt Tee gibt es Kaffee. Sie vernimmt Schreie von einer Lichtung aus der Nähe. Fragt nach, was da los sei. Nichts Besonderes, erhält sie zur Antwort. Man habe drei Frauen erwischt, die wahrscheinlich für die Milice oder die Deutschen direkt arbeiteten, die würden gerade verhört. Nach dem, was sie hört, offensichtlich gefoltert. Sie greift ein. Verlangt, dass sie ihr überstellt werden, und zwar sofort. Nicht etwa, weil sie Mitleid mit denen verspürt. Solche Gefühle hat sie sich abgewöhnt, seit sie aus einem Versteck ohnmächtig mit ansehen musste, wie ein SS -Mann eine hochschwangere Frau mit einem Bajonett zu Tode folterte. Aber sie bevorzugte, wie schon im Fall des Verräters Roger, die schnelle Liquidation.
Zwei der Frauen sind Französinnen und haben nichts zu gestehen, weil sie nichts getan haben, außer zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Nancy Wake befiehlt – und die Männer gehorchen, denn so stark ist inzwischen ihre Stellung im Maquis –, beide medizinisch zu versorgen und danach freizulassen. Die dritte ist tatsächlich eine deutsche Agentin der Gestapo und stolz darauf, obwohl sie weiß, dies bedeutet ihr Todesurteil. Hélène ordnet an, sie zu exekutieren. Die Männer zögern. Sie schießen nicht auf Frauen. Mademoiselle Andrée dagegen zögert nicht. Erklärt ihnen, dann werde sie selbst es machen, sobald sie ihren Kaffee ausgetrunken habe. Das wirkt. Als die Deutsche zur Hinrichtung geführt wird, spuckt sie vor Nancy Wake aus und brüllt ein letztes Mal »Heil Hitler«.
Hätte sie tatsächlich selbst das Todesurteil vollstreckt? Wäre sie fähig, einen Menschen zu töten? So
Weitere Kostenlose Bücher