Codename Merlin - 3
nicht die Macht selbst, die Sharleyan das Gefühl gab, tatsächlich lebendig zu sein, sondern viel mehr die Entschlossenheit, stets ihr Bestens zu geben, und die Befriedigung, die sie daraus zog, in ihrem Herzen zu wissen, dass sie genau das tatsächlich auch getan hatte. Es musste vergleichbar sein mit dem Gefühl eines hochgejubelten Sportlers, der sich während seines Trainings immer weiter unablässig zu neuen Höchstleistungen anspornte. Es war die Befriedigung, die er tief in seinem Innersten verspürte, nicht die Befriedigung, die er aus dem Jubelgeschrei seiner Anhänger zog. Oder vielleicht, so ging es Sharleyan oft durch den Kopf, war es auch vergleichbar mit dem Gefühl eines Schwertkämpfers in diesem ersten, atemlosen Moment, in dem er bei einem Wettbewerb den eigentlichen Kampfplatz betrat.
Oder, gestand Sharleyan sich ein, mit dem, was ein Duellant fühlt, wenn sein Gegner das Schwert zieht.
»Meine Lords …« Sie gestattete sich bewusst, ihre Stimme fast schon vorwurfsvoll klingen zu lassen. »Gibt es hier am Tisch irgendjemanden, der tatsächlich glaubt, Haarahld von Charis habe die Absicht gehabt, in Corisande einzumarschieren? Er habe in irgendeiner Weise das Ziel gehabt, den gesamten Handel auf der Welt in seine Gewalt zu bringen?«
»Wenn Ihr gestattet, Eure Majestät«, ergriff Herzog Halbrook Hollow das Wort, und er war sichtlich bemüht, so neutral wie nur möglich dabei zu klingen, »es hat ganz den Anschein, als würde gerade jetzt genau das geschehen.«
»Ja, Euer Durchlaucht«, pflichtete sie ihm bei. »Jetzt sieht es tatsächlich ganz danach aus. Aber das wichtige Wort hier ist wohl ›jetzt‹, oder etwa nicht? Charis hat soeben den Angriff von ganzen fünf Flotten zurückgeschlagen, einschließlich unserer eigenen, und König Cayleb ist sich offensichtlich bewusst, dass der Vorwand, unter dem dieser Angriff erfolgte − dieser Angriff, der auch seinem Vater das Leben gekostet hat …« − scharf blickte sie ihrem Onkel in die Augen − »… von den Rittern der Tempel-Lande inszeniert wurde. Was Charis zu Friedenszeiten niemals angestrebt hat, mag jetzt, zu Kriegszeiten, sehr wohl genau das sein, was dieses Königreich unbedingt anstreben muss, wenn es darauf hoffen will, diesen gegen Charis geführten Angriff zu überstehen.«
Bitte, Onkel Byrtrym, flehte sie wortlos, während sie ihn so voller zur Schau gestelltem Selbstbewusstsein ansah, mit ruhigem Blick und entschlossenen Lippen. Ich weiß genau, was du denkst. Bitte unterstütz mich jetzt.
Der Herzog öffnete den Mund, dann schloss er ihn wortlos wieder.
»Die nackte Wahrheit, Meine Lords, ist …«, fuhr sie fort, als ihr Onkel nicht auf ihr wortloses Flehen, auf diese stumme Herausforderung, einging − zumindest vorerst −, »… dass ich dazu genötigt wurde, gegen meinen Willen ein friedfertiges Nachbarreich anzugreifen. Und eine weitere nackte Wahrheit ist, dass dieser Angriff, der das Ziel hatte, Charis zu überwältigen und zu zerstören, jämmerlich gescheitert ist. Und um unter anderem über diese Wahrheiten zu sprechen, hat König Cayleb Graf Gray Harbor nach Chisholm gesandt.«
Durch das offene Fenster des Ratssaales hörte man in der Ferne den schrillen Pfiff einer Jagd-Wyvern; er durchdrang das Schweigen, das sich über den Tisch gelegt hatte. Alle Augen waren nun gebannt auf Sharleyan gerichtet; der eine oder andere ihrer Ratgeber am Tisch wirkte unnatürlich bleich.
»Meine Lords, die … Ritter der Tempel-Lande haben die Zerstörung von Charis angeordnet. Damit sind sie gescheitert. Ich bin der Ansicht, sie werden auch in Zukunft scheitern. Und ich bin der Ansicht, wenn sie nicht scheitern, wenn sie also die Zerstörung eines Reiches anordnen können, und das aus willkürlichen, ureigenen Gründen, dann können − und werden − sie die Zerstörung auch anderer Reiche anordnen. Ich habe vorhin das Bild eines Schiffes auf hoher See verwandt, und ich habe dies ganz bewusst getan − aus mehrerlei Gründen. Gemeinsam haben wir schon so manchen Sturm umschifft, seit ich den Thron dieses Reiches bestiegen habe, aber der Hurrikan, der jetzt über die Oberfläche von ganz Safehold zu fegen droht, ist anders als jeder Sturm, den wir bislang erlebt haben. Bei diesem Sturm wird es keinen schützenden Hafen geben, Meine Lords. Diesem Sturm wird man sich auf hoher See stellen müssen, und man wird ihn auch auf hoher See überstehen müssen, umtost von Blitz und Donner und Wind. Zweifeln Sie nicht daran, Meine
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