Codename Merlin - 3
für Caylebs Überleben zu sorgen, und nicht etwa − trotz seiner kürzlichen Beförderung und ganz im Einklang mit seiner Stellung als persönliche Leibwache des Königs −, ihm in Staatsangelegenheiten zurate zu stehen. Und auch die Art und Weise, wie der König von Charis seine Leibwache ansprach, hätte er gewiss als befremdlich empfunden.
Natürlich wäre besagter außenstehender Beobachter auch fälschlicherweise davon ausgegangen, Captain Merlin Athrawes von der Charisian Royal Guard sei ein lebendiger Mensch. Nun, er sei zumindest ein Mensch. Vielleicht wäre es nicht falsch zu behaupten, er sei lebendig; diese Frage hatte Merlin noch nicht einmal für sich selbst zu beantworten vermocht.
Nicht einmal Gray Harbor und Staynair kannten über Merlin die ganze Wahrheit. Tatsächlich kannte nicht einmal Cayleb die ganze Wahrheit. Der König wusste zwar sehr wohl, dass Merlin weitaus mehr als ein Mensch war, aber natürlich wusste er nicht, dass er es hier in Wirklichkeit mit einem PICA zu tun hatte − einem Persönlichkeits-Integrierten Cyber-Avatar −, in dessen künstlichem Körper die elektronisch gespeicherte Persönlichkeit, die Erinnerung, die Emotionen, die Hoffnungen und Ängste einer jungen Frau namens Nimue Alban untergebracht waren − einer Frau, deren eigentlicher Körper bereits vor acht oder neun Jahrhunderten den Tod gefunden hatte.
Doch was Gray Harbor und Staynair wussten, und was sie − ebenso wie Cayleb und eine Handvoll anderer, denen das Gleiche bekannt war − sorgfältig vor allen anderen zu verbergen suchten, das war, wie entscheidend Captain Athrawes’ ›Visionen‹ und sein erstaunliches, beispielloses technisches Verständnis dazu beigetragen hatten, dass Charis bislang diesem massiven Angriff durch die ›Vierer-Gruppe‹ hatte widerstehen können. Natürlich wusste jeder im ganzen Königreich, dass Merlin ein Seijin war − einer der unvorstellbar kampferprobten Kriegermönche, denen gelegentlich auch spirituelle Visionen zuteil wurden. Diese Art der Kriegermönche tauchten in der Geschichtsschreibung von Safehold gelegentlich auf − auch wenn vieles von dem, was über sie berichtet wurde, doch Anlass zu Zweifel bot. Merlin hatte sich nach reiflichem Nachdenken bewusst für eine derartige Tarnung entschieden, bevor er in Charis eingetroffen war, und sein Ruf als einer der gefährlichsten Krieger der Welt (obwohl er, wenn man es genau nahm, eigentlich nicht nur einer der gefährlichsten Krieger der Welt war, gerade angesichts seiner … besonderen Fähigkeiten) machten ihn zum idealen Kandidaten für Caylebs persönliche Leibgarde. Und er war immer in der Nähe des Königs, hörte stets sämtliche Entscheidungen und Pläne, die in Caylebs Besprechungen und Ratssitzungen erörtert wurden, und doch war er zugleich für alle anderen Anwesenden kaum mehr als ein Möbelstück. Auf diese Weise war Merlin stets präsent, wenn es um Vorschläge oder Beratungen ging, und doch war er für alle Außenstehenden praktisch unsichtbar. Niemand fragte sich jemals, warum er gerade anwesend sein mochte.
Und nun blickte Cayleb ihn an und hob fragend eine Augenbraue.
»Was haltet Ihr von Ehdwyrds Analyse?«, fragte er.
»Ich denke nicht, dass ich in der Lage bin, mit ihm über gerade dieses Fachgebiet zu disputieren«, erwiderte Merlin. »Ich bezweifle, dass es im ganzen Königreich auch nur einen Einzigen gibt, der dazu in der Lage wäre − zumindest so lange nicht, bis uns Mahklyns Begeisterung dafür, über sämtliche Zahlen Listen zu führen, eine objektive Basis für statistische Überlegungen bietet. Aber ich muss ihm beipflichten, dass es für die ›Vierer-Gruppe‹ außerordentlich schwierig werden dürfte, unseren Handelsschiffen den Zugang nach Howard und Haven tatsächlich effektiv zu versperren. Aber wie erfolgreich dieser Versuch letztendlich sein wird, falls sie es dennoch versuchen sollten, und ob Baron Wave Thunders Besorgnis, die Kirche könne Rahnyld finanziell unterstützen, berechtigt ist oder nicht, vermag ich wirklich nicht zu beurteilen.«
Napoleon hat es England gegenüber mit seiner ›Kontinentalsperre‹ versucht, ging es Merlin durch den Kopf. Für ihn ist das nicht gerade gut gelaufen, und das darf man wohl als gutes Zeichen für Howsmyns Theorien ansehen. Andererseits gab es damals deutlich mehr auf Terra als nur Europa. Wollte man das mit unserer Lage vergleichen, wäre es wohl so, als hätte Napoleon auch alle wichtigeren Häfen in Nordamerika in seiner
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