Codename Merlin - 3
Buch, so viel, über das in angemessenem Maße nachzudenken ihm die Zeit nicht mehr bleiben würde. Und es fehlten auch einige Dinge.
Er blätterte zur letzten Seite des Buches Chihiro. Einer alten Tradition gemäß befand sich zwischen Chihiro und der ersten Seite des Buches Hostings stets ein unbedrucktes Blatt, doch in Dynnys’ Ausgabe der Heiligen Schrift gab es keine leere Seiten. Zumindest nicht mehr.
Mit dem Zeigefinger fuhr Erayk über den Bundsteg, ertastete die raue Kante: Dort war eine der unbedruckten Seiten herausgerissen. Noch einmal atmete der ehemalige Erzbischof tief durch, dann schloss er das Buch.
Er lehnte sich zurück und fragte sich, ob Adorai überhaupt einen einzigen seiner Briefe erhalten hatte. Er hatte in Erwägung gezogen, auch ehemalige Freunde und andere Mitglieder seiner Familie anzuschreiben, doch schließlich hatte er sich dagegen entschieden. Keiner von ihnen hatte es gewagt, es Cahnyr gleichzutun, niemand hatte auch nur das Wort zu seiner Verteidigung ergriffen. Eigentlich hatte das Erayk kaum überrascht, gerade angesichts der gegen ihn erhobenen Vorwürfe und auch der Person desjenigen, der diese Vorwürfe vorgebracht hatte, und doch schmerzte ihn das Gefühl, wirklich von allen verlassen worden zu sein. Doch das war nicht der Grund gewesen, weswegen er davon Abstand genommen hatte, ihnen zu schreiben. Ob sie ihn tatsächlich im Stich gelassen hatten oder nicht, sie gehörten immer noch zu seiner Familie, und er wusste ganz genau, dass jedes einzelne Wort seiner Briefe von der Inquisition sorgsam geprüft werden würde. Angesichts der beinahe schon nackten Panik, die den ganzen Tempel erfasst hatte, nachdem die Berichte über Charis’ überwältigenden Sieg in Zion eingetroffen waren − und mehr noch nach dem Eintreffen des Briefes, den Staynair an den Großvikar gerichtet hatte −, war Clyntahn zweifellos hektischer denn je auf der Suche nach weiteren Opfern. Ihm dürstete nach neuem Blut, mit dem er seine Vikars-Kollegen besänftigen konnte. Dynnys hatte nicht die Absicht, ihm diese Aufgabe zu erleichtern, indem er mit einem Brief durch ein unvorsichtig gewähltes Wort oder eine Formulierung, die aus dem Zusammenhang gerissen missverständlich gedeutet werden konnte, dem Großinquisitor seine eigene Familie ans Messer lieferte.
Dynnys hoffte inständigst, dass wenigstens einer seiner Briefe Adorai erreicht hatte. Doch er zweifelte daran, was auch immer die Inquisitoren ihm versprochen haben mochten. Wer musste sich denn schon an ein Versprechen halten, das einem Ketzer gegeben worden war? Einem Mann, der dafür verurteilt worden war − und er war schon lange vor irgendeinem ordentlichen Verfahren verurteilt gewesen! −, die Brut von Shan-wei selbst unter seinen Schutz gestellt zu haben? Den Rat der Vikare und den Großinquisitor bewusst belogen zu haben, um seine eigenen Sünden zu verbergen, und zugleich auch die noch ungleich schwerwiegenderen Sünden, die all die Ketzer und Gotteslästerer seiner gefallenen Erzdiözese begingen? Warum hätte man den Brief eines solchen Gefangenen an irgendjemanden weiterleiten sollen?
Natürlich hatten sie alle seine Briefe entgegengenommen − sei es, um sie wirklich zuzustellen, sei es, um sie in irgendeiner Weise gegen ihn zu verwenden, sei es, um sie einfach ungelesen fortzuwerfen. Doch sie hatten nicht begriffen, dass ihm noch eine andere Möglichkeit offengestanden hatte, an Papier zu gelangen. Und sie hatten auch nicht vermutet, Zhasyn Cahnyr könne mehr als nur ein einfacher Besucher gewesen sein. Sie waren nicht auf den Gedanken gekommen, der Primas von Gletscherherz habe sich − für sie alle unmerklich − bereit erklärt, Botschaften des Gefangenen entgegenzunehmen.
Zunächst hatte Dynnys darin eine weitere, sehr kunstvoll gestaltete Falle gewähnt − geplant und in die Tat umgesetzt durch die Inquisition. Doch er hatte keine Minute gebraucht, um zu begreifen, wie absurd dieser Gedanke doch war. Und in dem Augenblick hatte er auch damit begonnen, sich Gedanken darüber zu machen, welch tödliches Risiko für ihn einzugehen Cahnyr sich doch bereit erklärt hatte, und so hatte er das Angebot des Erzbischofs mit einem Lächeln abgelehnt, von dem er hoffte, sein Gegenüber könne daraus erkennen, wie unaussprechlich dankbar er ihm für dieses Angebot war.
Doch dann, als er wie mit neuen Augen erneut die Heilige Schrift studierte, und vor allem, als er in jenen Kapiteln der Erkenntnisse las, die Großvikar Evyrahard
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