Codename Merlin - 3
Stufen emporstieg − und wenn es wirklich so war, wer hätte es ihm verübeln können? Selbst von ihrem Standort aus sah Ailysa, wie die Luft über den glühenden Kohlenpfannen schimmerte; in der Hitze lagen die Eisen und Zangen bereit − und das war nur einer der Schrecken, die Erayk Dynnys hier erwartete.
Wenn er also zögerte, so währte es nur einen kurzen Moment. Dann schritt er weiter, nahm seinen Platz vor der wartenden, kreischenden Menschenmenge ein, die hierhergekommen war, um ihn sterben zu sehen.
Eine weitere Gestalt erschien. Ebenso wie die Scharfrichter trug auch sie das dunkle Purpur des Schueler-Ordens, doch auf seinem Kopf saß die orangefarbene Kopfbedeckung, die ihn als Vikar auswies. Ailysa presste die Lippen aufeinander, als sie Vikar Zhaspyr Clyntahn erkannte.
Natürlich, dachte sie. Das ist das erste Mal in der gesamten Geschichte von Mutter Kirche, dass einer ihrer eigenen Erzbischöfe unter dem Vorwurf der Ketzerei und der Gotteslästerung hingerichtet wird. Wie sollte der Großinquisitor nicht persönlich anwesend sein? Und wie sollte ein Mann wie Clyntahn einem Justizmord fernbleiben, der an einem Opfer seiner eigenen Verbrechen begangen wird?
Der Großinquisitor entrollte ein uraltes Schriftstück und begann es zu deklamieren; dies gehörte zu den Förmlichkeiten einer derartigen Hinrichtung. Ailysa hörte seine Worte nicht. Sie brauchte sich nicht die Liste all der Vergehen anzuhören, für die Dynnys nun hingerichtet werden sollte. Nicht, wenn sie genau wusste, dass das einzige Verbrechen, dessen er sich wirklich schuldig gemacht hatte, nichts anderes war als die Tatsache, den perfekten Sündenbock für die ›Vierer-Gruppe‹ abzugeben.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Clyntahn das schier unendliche Urteil verlesen hatte, doch schließlich kam er zu einem Ende und wandte sich nun Dynnys zu.
»Du hast die Entscheidung und das Urteil der Heiligen Mutter Kirche gehört, Erayk Dynnys«, intonierte der Vikar, und trotz des Windes war seine Stimme deutlich zu verstehen. »Hast du noch irgendetwas zu sagen, bevor das Urteil vollstreckt wird?« Dynnys blickte sich auf dem gewaltigen Platz um, und eine kaum hörbare Stimme im Hinterkopf fragte, wie oft er wohl über eben diese Steine geschritten war, an denselben Statuen vorbeigegangen, an denselben Skulpturen und Springbrunnen atemberaubender Schönheit? Wie oft war er die Kolonnaden des Tempels hinuntergeschritten, hatte ihre Erhabenheit und Schönheit für selbstverständlich gehalten, weil es stets ›so viel wichtigere‹ Dinge zu durchdenken galt?
Während Clyntahn die Liste der Vergehen verlas, für die er nun den Tod finden sollte, waren seine Gedanken in jene andere Zeit zurückgereist, zu jenen anderen Tagen, an denen er diesen Platz besucht hatte. Ebenso wie Ailysa brauchte er sich diese Deklamation nicht anzuhören; doch natürlich wusste er nichts von dem, was Ailysa währenddessen durch den Kopf gegangen war. Er wusste genau, was man ihm vorwarf, und genau wie es die Inquisition von ihm verlangt hatte, hatte er sich pflichtschuldig zu jedem einzelnen Anklagepunkt schuldig bekannt. Es hätte keinerlei Zweck gehabt, sich zu verweigern. Letztendlich, das wusste er, hätten sie ihn doch dazu gebracht, alles zu gestehen, was sie von ihm hören wollten. Darin war die Inquisition über alle Maßen geschickt, und selbst wenn es ihm doch irgendwie gelungen wäre, ein Geständnis zu vermeiden, hätte das doch nichts an seinem bereits beschlossenen Schicksal geändert.
Und doch mochte es noch eine Gnade geben. Er erinnerte sich an das kalte Versprechen, das ihm der Oberpriester gegeben hatte, an diese Botschaft von Clyntahn selbst, die der Großinquisitor nicht persönlich zu überbringen willens gewesen war. Ein Geständnis und ein öffentliches Bekennen seiner Schuld würde ihm die Hinrichtung durch die Garotte und einen schnellen Tod bringen, bevor dann der ganze Katalog all jener Strafen, die der Erzengel Schueler verfügt hatte, an seinem dann leblosen Leichnam vollzogen würden.
Dynnys hatte genau verstanden, was Clyntahns Handlanger ihm gesagt hatten.
Ein öffentliches Reuebekenntnis, das Eingestehen der Schuld und das Flehen um Vergebung waren wichtiger Teil der Strafen, die die Inquisition für die Sünde auferlegte. Gottes Gnade war unendlich. Selbst noch am Rande des Höllenschlundes selbst mochte ein reuiger Sünder Vergebung und Zuflucht bei Ihm finden. Und so gebot es die Tradition, dass jedem von der Inquisition
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