Codename Merlin - 3
Dienst als Hirten im Namen Gottes gerufen wurden, tatsächlich auch dieser Aufgabe würdig waren.
Und für Erayk Dynnys hatte das nicht gegolten.
Ich frage mich, was wohl passieren würde, wenn Clyntahn sämtliche Bischöfe und Erzbischöfe dazu brächte, sich einige Monate bei Wasser und Brot ausschließlich mit der Heiligen Schrift zu beschäftigen, ging es ihm fast belustigt durch den Kopf. Wahrscheinlich würde ihm das Ergebnis gar nicht gefallen! Er hat schon so genug Ärger. Da reichen die Wylsynns schon aus. Er braucht nicht auch noch eine ganze Schar Bischöfe, die die Heilige Schrift tatsächlich gelesen haben.
Nun, für Erayk Dynnys würde das nicht mehr lange von Bedeutung sein. Schon viel zu bald würde er aus unmittelbarer Nähe erfahren, was Gott von ihm in diesem Leben erwartet hatte. Und das würde, dessen war er sich sicher, gewiss keine Erklärung sein, die er sonderlich genießen würde, denn was auch immer Gott von ihm erwartet haben mochte: Er war gescheitert. Er war in genau dem Maße gescheitert, in dem jeder Mensch scheitern musste, der von sich in Anspruch nahm, für Gott selbst zu sprechen, Ihn aber in Wahrheit längst vergessen hatte.
Dynnys hatte getan, was er konnte, um seine Fehler wiedergutzumachen, und doch war das nur bemitleidenswert wenig im Vergleich zu dem, was er im Laufe zahlreicher Jahre getan hatte. Das wusste er jetzt. Und er wusste auch, dass, obwohl die Vorwürfe, die der Großinquisitor gegen ihn erhob, samt und sonders haltlos waren, all das, was auf ganz Safehold geschehen würde, ebenso seine eigene Schuld war wie die aller anderen.
Zu seiner großen Überraschung war der einzige Erzbischof, der es gewagt hatte, ihn während seiner Haft in dieser Zelle aufzusuchen, Zhasyn Cahnyr gewesen, der hagere, fast schon ausgemergelte Erzbischof von Gletscherherz. Die beiden verabscheuten einander bereits seit vielen Jahren aus tiefstem Herzen, und doch war Cahnyr der Einzige aus seinem gesamten Kollegenkreis, der ihn besucht hatte − und der das Risiko einging, sich den Zorn von Clyntahn und der ›Vierer-Gruppe‹ zuzuziehen, weil er zusammen mit Dynnys für die Erlösung von dessen unsterblicher Seele zu beten bereit war.
Das war wirklich sonderbar. Man hatte es Cahnyr nur ein halbes Dutzend Mal gestattet, ihn zu besuchen, und bei jedem einzelnen Besuch hatte er nicht länger als eine Stunde verweilen dürfen. Und doch hatte Dynnys in diesen Besuchen immensen Trost gefunden. Vielleicht lag es daran, dass der Erzbischof der einzige Mensch war, der ihn seit seiner Festnahme weder verhört noch bedroht oder ihm eine Strafpredigt gehalten hatte. Er war einfach nur dort gewesen − das einzige Mitglied der gesamten kirchlichen Hierarchie, das bereit gewesen war, sein Priesteramt auch tatsächlich auszuüben und sich um die Bedürfnisse der Seele eines Gefangenen der Inquisition zu kümmern.
Das Verhalten des Erzbischofs von Gletscherherz hatte Dynnys zutiefst beschämt, und das nicht zuletzt, weil einer der Gründe, deretwegen Dynnys für diesen Kollegen so viel Verachtung empfunden hatte, genau die Tatsache gewesen war, dass Cahnyr sich seinen bischöflichen Pflichten stets mit dieser seelsorgerischen ›Einfältigkeit‹ genähert hatte.
Von ihm hätte ich einiges lernen können, wenn ich mir nur die Mühe gemacht hätte, ihm zuzuhören. Nun ja, ich habe dennoch etwas gelernt, und wie es in der Heiligen Schrift schon heißt: Wahres Wissen und wahres Verständnis kommen niemals zu spät, um der Seele eines Menschen von Nutzen zu sein.
Erayk Dynnys öffnete die Heilige Schrift und schlug eine der Stellen auf, die er sich eigens markiert hatte: Kapitel Fünfzehn, Neunter Vers des Buches Langhorne.
»Denn wie soll ein Mensch nutznießen, so er alle Macht der Welt erringt und doch seine Seele verliert? Und welchen Preis wird er für seine Seele zahlen, wie viel Gold wird er bringen? Bedenket das wohl, denn wer auch immer beschämet wird durch die Lehren, die Gott selbst durch meine Hand geschickt, wird auch beschämet sein an jenem Tage, da er vor dem Gott steht, der ihn schuf, und bei jenem entsetzlichen Urteil werde ich weder schützend meine Hand über ihn halten noch für ihn das Wort ergreifen.«
Das, so dachte Erayk, ist wahrlich eine Passage, aus der Zhaspyr Clyntahn eine ganze Menge lernen könnte, wenn er sich einige Stunden damit befassen würde.
Er blätterte weiter, lauschte dem Rascheln der dünnen Seiten aus kostbarem Papier. Es gab so viel Weisheit in diesem
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