Codewort Geronimo - der Augenzeugenbericht zum Einsatz der Navy-SEALs gegen Osama bin Laden

beschwor das Schreckgespenst des Takfir herauf und sondierte die Dschihadis nach seiner Einschätzung ihrer Tauglichkeit als Muslime. Zum anderen ermutigte Sawahiri Osama auf zynische Weise dazu, sich als Anführer an die Spitze zu stellen und persönlich in den Kampf gegen sowjetische Kräfte einzugreifen.
    Sawahiri wusste sehr genau, dass Osama keine taktischen Fähigkeiten besaß. Der durchtriebene Doktor animierte bin Laden dazu, das Lager auszubauen, das er vor der Nase der Sowjets angelegt hatte. Sawahiri selbst ließ sich nur selten an der Front blicken. Er wusste um seine Bedeutung für die Sache und suchte die Sicherheit von Peschawar. Er hetzte, betrieb Fitna – Glaubensspaltung – und wartete auf den richtigen Moment.
    Eine gut platzierte russische Mörsergranate würde ausreichen, um aus Osama bin Laden den Märtyrer zu machen, der er stets werden wollte. Das war Sawahiris einfacher Plan. Eine sowjetische Kugel würde Osama auslöschen, aber nicht sein Geld oder seine Organisation: Diese würden dem bereitstehenden Sawahiri in die Hände fallen. Er bestärkte Osama in immer wahnwitzigeren militärischen Eskapaden und hoffte das Beste.
    An jenem kalten Wintermorgen, als Abdallah Azzam, Abdul Sayyaf und Dschamal Khalifa zur Höhle des Löwen ritten, um Osama von der Front wegzuholen, trafen sie ihn im Kreise von Sawahiris sorgfältig ausgewählten Aufpassern an.
    Osama bin Laden hatte sich verändert.
    Er weigerte sich, auf die Einwände seines Freundes Azzam zu hören, dies sei kein guter Standort für einen Stützpunkt und die Speerspitze sei der falsche Ort für einen Mann von solcher Bedeutung für die Sache. Es gab Streit. Osama erzählte ihnen, er plane den Aufbau eines arabischen Spezialkommandos, das die Unterdrücker des Islam auf der ganzen Welt angreifen könne. Zu diesen Feinden zählten auch alle, die bin Laden als Kafir -Führer aller arabischen Regierungen bezeichnete, Ägypten eingeschlossen.
    Azzam war schockiert.
    Das Wort Kafir hört kein Muslim gern. Es steht für Ungläubige. Osama war von Sawahiri zur Doktrin der Takfiri bekehrt worden. Er wollte nicht mehr nur gegen die Russen kämpfen, sondern auch gegen andere Muslime.
    Dschamal Khalifa bedrängte seinen Schwager ebenfalls, sich von der Front zurückzuziehen. Bin Laden sagte ihm: „Das ist der Dschihad! So wollen wir in den Himmel kommen.“
    Osama war zur Marionette Sawahiris geworden. Der Arzt ließ Osama das Lager in der Löwengrube ausbauen und immer komplexere Tunnel, Bunker und Luftschutzräume anlegen. Diese nutzlosen Bauten hatten keinerlei taktischen oder strategischen Sinn. Wie es sein konnte, dass die Arbeit von Bulldozern, Baumaschinen und Tunnelgerät der Aufmerksamkeit russischer Kampfhubschrauber entging, ist ein Rätsel. Der Stützpunkt wurde größer und die Russen merkten das entweder nicht oder wollten die Sicherheit ihrer eigenen Bunker nicht verlassen.
    Während des Ausbaus waren Osamas potenzielle Kommandotruppen begierig darauf, Russen zu töten. Osama aber begnügte sich damit, seinen Stützpunkt zu befestigen und abzuwarten. Im März 1987 kehrte er nach Saudi-Arabien zurück, um frisches Kapital aufzutreiben und sich mit dem saudischen Geheimdienstchef Prinz Turki zu beraten. Unter anderem sprachen sie darüber, was mit Afghanistan geschehen solle, wenn die Sowjets erst abgezogen waren, was mittlerweile als sicher galt.
    Während Osamas Abwesenheit befahl einer seiner Untergebenen einen schlecht durchdachten Angriff auf den nahen Stützpunkt der Russen. Damit hätte er in ein Hornissennest gestochen. Osama kehrte gerade noch rechtzeitig in die Höhle des Löwen zurück, widerrief die Befehle und ließ die Anstifter züchtigen.
    Die Aktion wurde abgeblasen, doch im Lager wurde gemurrt. Die Männer brannten darauf, zu kämpfen, und Osama saß als militärischer Führer nicht fest genug im Sattel, um ihnen zu vermitteln, dass der Zeitpunkt für einen Einsatz noch nicht gekommen war.
    Die Unzufriedenheit nahm zu. Sawahiris Handlanger hetzten die Männer zu einem neuerlichen Vorstoß gegen die nahen Russen auf. Osama wurde zum Handeln gedrängt. Am 17. April 1987 stellte sich Osama an die Spitze einer Einheit von 100 Kämpfern, die ausgewählt wurden für einen Schlag gegen einen Vorposten der afghanischen Armee nahe der Stadt Chost. Man kann sich denken, wie gespannt Sawahiri auf den Ausgang wartete.
    Die Operation war das am schlechtesten gehütete Geheimnis während des sowjetisch-afghanischen Kriegs.