Codewort Geronimo - der Augenzeugenbericht zum Einsatz der Navy-SEALs gegen Osama bin Laden
kommandierenden Offizieren das Leben schwer machte. Während der blausilberne Hughes 500 des Teams den Albermarle Sound überflog, schaute Kerr kaum einmal aus dem Fenster, sondern unterschrieb, überarbeitete Texte und schaufelte sich durch die administrativen Pferdeäpfel seines persönlichen Augiasstalls.
Das Konferenzzimmer im JSOC lag im dritten Untergeschoss zwischen 30 Zentimeter dicken, schalldichten Stahlwänden, gesichert mit elektronischem Kartenlesegerät und altmodischem Zahlenschloss – wie ein Banksafe in einem Italowestern. Ungefähr sechs solche Kammern gab es im JSOC, doch Scott steuerte auf den sogenannten „Flag“-Raum zu, den tiefsten und dem Büro des Admirals am nächsten gelegenen.
Im JSOC werden diese Zimmer nie „Konferenzräume“ genannt, wenn kein Zivilist zugegen ist. Zivile Teilnehmer sind in der Regel Senatoren oder Verteidigungsminister oder stellvertretende Direktoren der CIA oder auch mal des FBI oder hochrangige Mitarbeiter des Außenministeriums. Alle sonst, also alle Militärangehörigen, bezeichnen die Kammern als „the vaults“ – die Gruften.
Im Gewirr unterirdischer Gänge und Räume des JSOC-Hauptquartiers überwiegen deutlich die Stahltüren. Sämtliche Besprechungszimmer und die meisten Büros sind mit denselben bedrückenden, grauen, elektronisch gesicherten Türen ausgestattet. Vor den wichtigsten „Gruften“, zu denen auch der Flag-Raum gehörte, stand außerdem ein bewaffneter Wachsoldat.
Der erste Verdacht, dass etwas Außergewöhnliches im Gange sein könnte, beschlich Scott, als er Flag A betrat und nur zwei Männer anwesend waren: Vice Admiral Bill McRaven, kommandierender Offizier des JSOC, und ein kleiner, schmallippiger Kerl, den der Admiral als Walter Youngblood vorstellte – ein Geheimdienstmitarbeiter aus dem Antiterrorzentrum der CIA. Der Admiral und der CIA-Mann hatten jeweils zwei dicke Mappen vor sich liegen.
Als die Wache die Tür zur Gruft schloss, ging ein rotes Licht an: Sitzung läuft. Als sonst niemand mehr kam, wusste Kerr, es könnte interessant werden. Der Raum wurde verschlossen und bewacht, und so würde es bleiben, bis die Sitzung vorüber war. Kerr setzte sich, als der Admiral Platz nahm. Er kannte Bill McRaven seit über 20 Jahren und der 1,90 Meter große Texaner war in ihren Kreisen für sein Pokerface bekannt. Über den CIA-Mann wusste er nichts. Dieser bemühte sich zwar um eine ausdruckslose Miene, doch anders als McRaven war dem Mann aus Langley seine freudige Erregung trotzdem anzusehen – wie einem Schuljungen, der in seiner Brotdose einen Frosch ins Klassenzimmer geschmuggelt hatte. Kerr meinte, den Mann schon einmal gesehen zu haben, bei einer Konferenz vielleicht, doch richtig zuordnen konnte er ihn zunächst nicht.
Der Admiral kam sofort zur Sache. „Wir brauchen ein paar von Ihren Leuten. Für eine Planungszelle.“
„Wie viele?“ Jedis waren stets sehr gefragt, und die CIA war berüchtigt dafür, in zahllosen taktischen Angelegenheiten Angehörige des Teams als Berater für ihre eigenen „Experten“ anzufordern. Diese Aufträge waren so langweilig und missliebig, dass die Schützen die Fahrten nach Langley schon lange nur als „Pet SEAL“ Operations bezeichneten – als Stubentigereinsätze.
„Es sieht so aus, als hätten wir eine Spur zu einer hochwertigen Zielperson. Und diesmal auch einen Ort. Das konkretisiert sich und ich möchte einen Plan für Sofortmaßnahmen parat haben, wenn sich abzeichnet, dass sich die Zielperson bewegt.“
Scott Kerr zuckte mit keiner Wimper. Eine hochwertige Zielperson musste nicht unbedingt Osama bin Laden sein. Doch dass nur drei Männer an diesem Gespräch teilnahmen, verlieh der Sache einiges Gewicht. Osama war seit über zehn Jahren der meistgejagte Mann der Welt – und die SEALs waren ihm mehr als einmal knapp auf den Fersen gewesen: Im September 2008 hatte Scott an einem Einsatz im tiefsten Waziristan teilgenommen, in einem Kaff namens Angoor Ata. Die CIA hatte Informationen geliefert, aus denen hervorging, dass sich Osama dort aufhielt. Die SEALs kehrten mit leeren Händen zurück. Seit den Anschlägen vom 11. September war Osama überall gesehen worden, von Teheran bis Tripolis. Eine Hellseherin schickte dem JSOC immer wieder parfümierte Briefe über „Visionen“, in denen Osama sich in London im Hotel Ritz versteckt hielt.
Ganz ohne hellseherische Komponente kursierten im JSOC ernstzunehmende Spekulationen, dass Osama bereits tot war. Niemand ging noch
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