Codewort Geronimo - der Augenzeugenbericht zum Einsatz der Navy-SEALs gegen Osama bin Laden
davon aus, dass Osama in seinem Versteck weiterhin paschtunische Gastfreundschaft in Anspruch nahm. Auf seinen Kopf waren 25 Millionen US-Dollar ausgesetzt. Gastfreundschaft hin oder her – für so viel Geld würden die meisten Menschen ihre eigene Großmutter ausliefern. Im JSOC dachten viele, dass Osama unter dem Schutz einer Regierung stand – tot oder lebendig. Die Theorie über seinen Tod besagte, er sei vom pakistanischen Geheimdienst ISI ermordet worden, der das aber verschleiere, damit das „Feindbild“ des internationalen Dschihad weiterhin dafür sorgte, dass Geld an die pakistanischen Streitkräfte floss. Das erschien vielen zunehmend plausibel – vor allem, da die abgefangene Kommunikation von al-Qaida verstärkt auf einen schwelenden Machtkampf zwischen Osama und Aiman Sawahiri hindeutete. Sawahiri war Ende 2003 wieder aufgetaucht und nach Pakistan eingereist. Wie bin Laden vermutete man ihn in den Stammesgebieten oder vielleicht auch im Süden des Irans.
Über den Tisch hinweg musterte Scott Kerr den CIA-Vertreter, einen gänzlich unauffälligen Mann im Anzug, an den sich kaum jemand erinnern würde. Da fiel ihm ein, woher er ihn kannte – aus Angoor Ata.
„Gut“, sagte Kerr. „Setzen Sie mich ins Bild.“
Kerr brauchte nicht zu fragen, wo sie die hochwertige Zielperson vermuteten. Aus seiner Einsatzerfahrung wusste er, dass man keine direkten Fragen formulierte, solange man noch nicht offiziell in ein Projekt einbezogen war. Erst einmal hörte man zu. Und so seltsam es klingt: Für Kerrs Absichten und Zwecke war der genaue Aufenthaltsort der hochwertigen Zielperson unwichtig. Sollte es sich um Osama handeln, spielten seine Koordinaten nur insoweit eine Rolle, als sie die Absetzung und Wiederaufnahme eines SEAL-Teams betrafen. McRaven wusste, wie das SEAL-Team 6 Aktionen am Zielort durchführte, und Walter hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon.
McRaven lehnte sich zurück. Eine Hand lag auf der Tischkante. Kerr bemerkte, dass er die Akten noch nicht berührte. Der Admiral sagte: „Ich habe gestern mit dem DCI gesprochen. Er will, dass wir es angehen und den Planungszyklus einleiten.“
Der DCI, der Chef der CIA, war Leon Panetta. McRaven ließ diesen Namen sozusagen als Auftakt für das fallen, was Walter Scott Kerr gleich verraten würde. Dann würde Scott ihm vielleicht mit größerer Aufmerksamkeit zuhören, als er sie irgendeiner weiteren CIA-Theorie über den geheimen Schlupfwinkel bin Ladens gewidmet hätte.
„Es gibt da einen Gebäudekomplex“, berichtete Walter, „den wir nun schon seit ein paar Wochen überwachen. Wir sind sicher, dass sich darin eine hochkarätige Zielperson aufhält.“
Womöglich sprachen sie ja gar nicht über Osama.
„Wie hochkarätig?“, fragte Kerr den Admiral.
„Das Anwesen ist von Mauern umgeben“, setzte McRaven die Beschreibung fort. „An die 6.000 Quadratmeter. Fotos sind in der Akte über die Zielperson. Alles, was wir sagen können, ist, dass sie sich mit zwei Dutzend weiteren Menschen dort aufhält. Es führen keine Telefonleitungen zu dem Gebäude und es gibt keine Internetverbindung. Die Leute verbrennen ihren Müll selbst, halten die Tore geschlossen und unterrichten ihre Kinder zu Hause.“
„Wie viele Kinder?“
„Ein Dutzend. Ungefähr“, meinte Walter.
Das komplizierte die Sache enorm. Ein Schlag gegen eine hochwertige Zielperson war eine Sache – eine ziemlich klare. Doch ein Schlag gegen ein Ziel, das gleichzeitig auch eine Grundschule war, war etwas ganz anderes. „Wie stark wird der Ort geschützt?“
Es war Walter, der antwortete. „Offensichtliche Verteidigungsvorkehrungen gibt es allem Anschein nach kaum.“
Kerr blickte hilfesuchend zu McRaven. „Offensichtliche Verteidigungsvorkehrungen“ gehörten nicht zum Wortschatz des SEAL-Teams.
McRavens Stimme verriet keinerlei Emotionen. „Wir haben keine bewaffneten Wachen gesehen, weder uniformierte noch andere. Die Verteidiger verhalten sich unauffällig. Was nicht bedeutet, dass die Leute da drin keine Waffen haben. Es halten sich mindestens fünf Männer im wehrfähigen Alter auf dem Anwesen und in den Gästehäusern auf. Sie sind sicherlich bewaffnet.“
Walter fuhr fort: „Wir haben auf dem Gelände Frauen und Kinder gesehen. Wir glauben, dass sie alle verwandt sind. Mehrere Familien.“
„Wie viele Menschen insgesamt?“
„Ungefähr 20 oder 25.“
„Auf dem Dach des Hauptgebäudes befindet sich ein Aufbau. Eine dreiseitige Kiste, oben offen.
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