Codewort Rothenburg
Wunschkonzert. Jeder Soldat brüllte dem Pianisten sein Lieblingslied zu, er wählte eines aus, und die ganze Gaststube grölte mit. »Das Leben ist ein Würfelspiel«, »Wir lagen vor Madagaskar«, »Rot scheint die Sonne, fertig gemacht«, »Oh du schöner Westerwald«, das Panzerlied »Ob’s stürmt oder schneit« und natürlich »Lili Marleen«. Daut hatte eine schreckliche Stimme, und doch sang er lauthals mit. Es tat so gut, ausgelassen zu sein, auch wenn mancher Liedtext alles andere als fröhlich war. Plötzlich wurde es unruhig im vorderen Teil der Gaststätte. Ein Stuhl fiel zu Boden. Daut sprang auf, um zu sehen, was los war. Ein torkelnder SA-Hauptsturmführer brüllte in Richtung der Soldaten. »Männer, jetzt will ich aber was Ordentliches hören. Nicht immer diesen sentimentalen Quatsch!«
Er riss sich mit der Linken die steife Mütze vom Kopf und reckte den rechten Arm hoch. Mit krächzender Stimme begann er mehr zu brüllen als zu singen:
»SA marschiert ...«
Der Pianist begann, den Mann zu begleiten. Immer mehr Gäste sprangen auf, drückten den Rücken durch und streckten den rechten Arm schräg nach oben. Das alte Kampflied der SA kannten alle. Bald brüllte der ganze Saal!
Daut setzte sich nicht mehr hin. Er blickte Rösen an, der stumm nickte. Sie warteten ab, bis das Lied zu Ende war, und verließen das Lokal durch die Hintertür, während drinnen das nächste Kampflied angestimmt wurde - diesmal der SS gewidmet.
Als er die frische Nachtluft einatmete, merkte Daut, wie betrunken er war. Auch Rösen schwankte bedenklich. Trotzdem sprang er auf die Straße, als eine Droschke um die Kurve bog. Fast wäre er unter die Räder gekommen. Als der Fahrer noch laut fluchte, hielt Rösen ihm den Dienstausweis vor die Nase.
»Das ist ein Polizeieinsatz. Ihr Wagen ist konfisziert. Bringen Sie den Hauptsturmführer hier in die Sedanstraße. Aber ruckzuck, wenn ich bitten darf.«
Der angestrebte Befehlston misslang, weil Rösen das Wort konfisziert fast nicht über die Lippen brachte und außerdem permanent kicherte.
Der Droschkenfahrer ließ sich ohnehin nicht beeindrucken.
»Sedanstraße? Wo is’n dette?«
»In Schöneberg, du Simpel.«
Daut wuchtete sich schnaufend in den Wagen.
»Fahren Sie los, Mann, bevor mein Kollege hier richtig sauer wird. Die Sedanstraße zweigt von der Kolonnenstraße ab, wenn Ihnen das etwas sagt.«
»Mensch, Meesta, warum sagste denn nich gleich, dette uf de Rote Insel willst.«
Der Fahrer hatte den Satz kaum ausgesprochen, da gab er Gas, und Daut zog eilig die Tür zu.
Walter gab keine Ruhe:
»Steh auf, Papa. Mama ist auch schon wach und sitzt am Radio. Da ist irgendwas passiert. Gleich kommt die Sondermeldung.«
In der Küche dröhnte das Radio. Daut wälzte sich stöhnend aus dem Bett und schleppte sich aus dem Schlafzimmer.
Luise saß mit aufgestützten Armen und hochrotem Kopf am Tisch. Walter stand am Küchenschrank und hantierte mit dem Empfänger. Nur Ilse fehlte, sie spielte im Kinderzimmer.
Im Radio lief das Frühkonzert. Mitten in einem schmalzigen Tango setzte ein Trommelwirbel ein, gefolgt von einer gellenden Fanfare. Der Refrain des Horst-Wessel-Liedes. Walters Körper straffte sich, es sah aus, als wolle er mitsingen.
»Sei still«, zischte Luise.
Eine wohlbekannte Melodie löste die Fanfare ab: Das Hauptthema aus Liszts »Les Préludes« kündigte jeden Wehrmachtsbericht an. Die Musik wurde langsam ausgeblendet, und ein Sprecher verkündete mit getragener Stimme:
»Der Großdeutsche Rundfunk veröffentlicht in Kürze eine Sondermeldung!«
Danach ging das Ganze von vorne los. Trommelwirbel, Horst-Wessel-Fanfare, Liszt, Sprecher.
Daut war verärgert.
»Und deswegen weckt ihr mich! Gibt es wenigstens Kaffee?«
Luise deutete auf den Herd, wo eine Emaillekanne stand, von deren Rand schon ein Stück abgesplittert war.
»Wenn du das Gebräu so nennen willst.«
Daut schlurfte zum Herd und goss sich eine Tasse ein. Die braune Flüssigkeit würde ihn zwar nicht wach machen, aber wenigstens seinen Durst löschen. Was hatte er einen Brand! Er nahm einen Schluck.
»Verdammt, ist das heiß!«
Er pustete in die Tasse, um den Muckefuck abzukühlen, und setzte sich neben Luise.
Plötzlich ertönte aus dem Lautsprecher unmittelbar nach dem Ansager die schnarrende Stimme des Reichspropagandaministers. Goebbels verlas eine Erklärung des Führers. Er sprach wie immer seltsam abgehackt, unbetont und schnell. Daut hatte das Gefühl, er nuschele heute
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