Codewort Rothenburg
noch mehr als sonst. Vielleicht lag es aber auch nur an seinem Kater, dass nur Bruchstücke der Rede in sein Hirn vordrangen.
»Wenn ich bisher durch die Umstände gezwungen war zu schweigen, so ist doch jetzt der Augenblick gekommen, wo ein weiteres Zusehen ... ein Verbrechen am deutschen Volk, ja, an ganz Europa wäre. Deutsches Volk! In diesem Augenblick vollzieht sich ein Aufmarsch, der in Ausdehnung und Umfang der größte ist, den die Welt bisher gesehen hat ... Ich habe mich ... heute entschlossen, das Schicksal und die Zukunft des Deutschen Reiches und unseres Volkes wieder in die Hand unserer Soldaten zu legen. Möge uns der Herrgott in diesem Kampf helfen.«
Wovon redete der Kerl da? Daut verstand die Zusammenhänge nicht. Neben ihm flüsterte Luise.
»Sie hatten recht! Sie hatten tatsächlich recht. Er ist so wahnsinnig und beginnt einen Krieg mit Russland.«
Also davon sprach der hinkende Gnom. Daut wandte sich Luise zu. Sie hatte das Kinn in die aufgestützten Hände gelegt. Aus dem Gesicht war jede Farbe gewichen. Ihre Augen blickten starr geradeaus. Sie bemerkte nicht, dass ihr Mann sie anschaute. Hatte sie Angst? War sie verzweifelt? Nein! Daut kannte seine Frau. Was er sah, war keine Verzweiflung. Es war Entschlossenheit.
Achtzehn
Luise sah sich im Wohnzimmer um und entdeckte keine unbekannten Gesichter. Anscheinend waren an diesem Sonntag die gleichen Menschen bei Neebs zu Gast wie eine Woche zuvor. Nur Kurt, der Künstler, fehlte. Er war eingerückt. Alle saßen im Wohnzimmer, hielten ein Glas in der Hand und unterhielten sich leise mit dem Sitznachbarn. Dabei waren sie doch alle so überzeugt gewesen, dass am heutigen Tag deutsche Truppen in Russland einmarschierten. Jetzt war genau das eingetreten, doch es gab keinen Triumph. Im Gegenteil, es schien eine seltsame Melancholie im Raum zu herrschen. Sie knüpften große Hoffnungen an diese Wendung des Krieges. Sie glaubten, dass die entscheidende Schlacht begonnen hatte. Die Auseinandersetzung, an deren Ende ein neues, freies Deutschland stehen könnte. Und ein besiegtes und gebrochenes Land, dachte Luise. Sie wusste nicht, wo sie sich setzen sollte, kam sich seltsam deplatziert vor. Als sie auf einen freien Stuhl neben Gustav Neeb zusteuerte, brach das Gemurmel ab. Der Ringer Werner erhob sich und sein Glas.
»Trinken wir auf die ruhmreiche Rote Armee. Trinken wir auf den Genossen Stalin.«
Nur zögernd erhoben alle ihre Gläser. Luise war froh, dass sie noch nichts zu trinken in der Hand hatte. Auf Stalin trinken? Darauf, dass die Russen möglichst viele deutsche Soldaten töteten? Sie kannte einige Männer, die im Feld standen. Axels kleiner Bruder Max fiel ihr ein. Aber der war Koch bei einer Artillerieeinheit, da würde ihm schon nichts passieren. Libertas riss sie aus ihren Gedanken. Sie sprang auf und rief laut und mit fester Stimme:
»Ja, trinken wir! Trinken wir auf das neue Deutschland, das in der Zukunft entstehen wird. Ein Deutschland, in dem der Mensch des Menschen Freund ist.«
Alle stimmten begeistert zu, riefen Bravo, klatschten oder klopften mit dem Fingernagel ans Glas. Luise lief ein Schauer über den Rücken, und eine Träne entwischte ihr aus dem rechten Auge. Dass sie aber auch so nah am Wasser gebaut hatte! Dabei war Libertas Trinkspruch genauso pathetisch wie die Rede vieler Parteigenossen, wenn sie über Deutschland sprachen. Alle rissen sich das Land unter die Finger, und keiner fragte die einfachen Leute. Andererseits hatte die Erklärung des Hinkebeins heute Morgen im Radio sie so gar nicht angerührt. Im Gegenteil, angewidert war sie gewesen von der Hetze, die aus jedem Satz herauszuhören war.
Luise setzte sich neben Gustav Neeb, der ihr väterlich über den Arm strich.
»Wir sind heute alle ein bisschen aufgewühlt, Luise. Du darfst nicht alles auf die Goldwaage legen, was gesagt wird.«
Die aufgeregte Stimmung legte sich langsam, und die Gespräche kreisten um die Ansprache des Propagandaministers und die Frage, wie bald es zu einer Entscheidungsschlacht im Osten kommen könne. Als wäre das unausweichlich. Als könne der Feldzug nicht anders verlaufen.
Wenig später rief Erna Neeb zu Tisch, und sie nahmen das Essen fast schweigend ein. Als wäre alles gesagt. Als der Kaffee aufgetragen wurde, stand Harro auf und holte seine Aktentasche von der Garderobe. Mit der Tasche in der Hand blieb er vor dem Tisch stehen, als wolle er zu einer Rede ansetzen.
»Wir sollten aber nicht vergessen, dass wir noch
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