Codex Alera 06: Der erste Fürst
Sie ließ ihn nach ein paar Augenblicken los, aber er wurde langsam weiter hineingezogen, bis nur noch seine Lippen und seine Nase unbedeckt von Kroatsch waren. Die Königin wandte sich um, und in ihren fremdartigen Augen funkelte etwas, das Isana als eine Art rohen, unbarmherzigen Zorn spürte. »Du wirst mit mir sprechen. Oder ich werde ihm Schmerzen zufügen, die du dir nicht einmal vorstellen kannst. Ich werde ihn dir Stück für Stück wegnehmen. Ich werde vor deinen Augen sein Fleisch an meine Kinder verfüttern.«
Isana starrte die Vordkönigin an und erschauerte, bevor sie den Blick senkte.
»Du bist nur kurzfristig von Interesse für mich«, fuhr die Vordkönigin fort, »ich habe andere Sorgen. Aber du solltest wissen, dass ich es bin, die über dein Schicksal entscheidet. Ich werde dich vernichten. Oder ich werde dir gestatten, in Frieden bis ans Ende deiner Tage mit den anderen Aleranern zu leben, die schon Vernunft angenommen haben. Mit deinem Zukünftigen – oder ohne ihn. Das kümmert mich wenig.«
Isana war eine ganze Weile still. Dann sagte sie: »Junge Dame, wenn das, was du sagst, wahr ist, dann kann ich nicht umhin, mich zu fragen, warum du so zornig bist.«
Sie sah die Vordkönigin ausholen – eine verschwommene Bewegung, die sie nicht rechtzeitig erfassen konnte, um auch nur zurückzuzucken, bevor der Schlag sie ins Gesicht traf. Isana stürzte wieder zu Boden. Feuer brannte auf ihrer Stirn, und nasses, heißes Blut strömte ihr übers Gesicht in ein Auge und ließ sie halb blind werden. Sie schrie nicht auf – zunächst, weil sie einfach zu verblüfft war, um auf die unfassbare Geschwindigkeit des Angriffs zu reagieren, dann weil sie sich zwang, stumm zu bleiben, um sich vor dem fremdartigen Wesen, das vor ihr stand, weder Schmerzen noch Schwäche anmerken zu lassen.
»Ich stelle die Fragen«, sagte die Vordkönigin, »nicht du. Solange du sie beantwortest, wird dein Mann unversehrt bleiben. Wenn du dich weigerst, wird er leiden. So einfach ist das.«
Sie wandte sich von Isana ab, und ein strahlend helles grünes Leuchten erfüllte den Raum. Isana krümmte ihren Körper vergeblich gegen die heftigen Schmerzen zusammen, als sie die Hand an die Stirn hob. Ein einzelner Riss, der vielleicht vier Zoll lang war, verlief in einer fast geraden Linie über ihre Stirn. Er ging tief, bis fast zu ihrem Schädelknochen, und blutete stark.
Isana holte mehrmals tief Atem, konzentrierte sich über den Schmerz hinweg und rief nach Bächlein. Die Arbeit war schwer, viel schwerer, als sie es selbst mit dem bescheidensten Wasserbecken gewesen wäre, aber schließlich war sie in der Lage, die Wunde durch Wasserwirken zu schließen. Ein paar Augenblicke später konnte sie den Schmerz etwas lindern, und das sorgte zusammen mit der gestillten Blutung dafür, dass ihr schwindelig und leicht euphorisch zumute war. Ihre Gedanken gerannen zu verwirrten Klumpen. Sie musste fürchterlich aussehen: Ihr halbes Gesicht war eine rote Fläche, ihr Kleid ruiniert. Es gab keinen Grund, den Ärmel nicht zu benutzen, um einen Teil des Bluts abzuwischen, obwohl ihre Haut noch empfindlich war und sie wahrscheinlich keinen größeren Erfolg als den erzielte, alles noch ein wenig mehr zu verschmieren.
Isana schluckte. Die Kehle brannte ihr vor Durst. Sie musste sich konzentrieren, einen Weg finden, zu überleben und auch Araris’ Überleben zu sichern. Aber was konnte sie schon tun, wenn diese Kreatur noch vor ihr stand?
Sie schaute auf und sah, dass sich die Höhle verwandelt hatte.
Grünes Licht wirbelte und tanzte durch das Kroatsch , das die Decke der Höhle überzog. Helle Lichtpunkte bildeten leise sich wiegende Reihen. Weitere Lichter huschten und flossen umher. Andere pulsierten in unterschiedlichen Abständen. Farbwellen, leichte Veränderungen in der Abstufung der Töne, huschten über die Decke, während die Vordkönigin völlig reglos hinaufstarrte und ihre fremdartigen Augen wie schwarze Juwelen wirkten, die grüne Punkte widerspiegelten.
Isana wurde von der brodelnden, organischen Bewegung des Lichterspiels ein wenig übel, hatte aber den Eindruck, dass es etwas damit auf sich hatte, so als ob eine Art Verbindung zwischen dem Leuchten und der Vordkönigin bestand, die sie nicht verstehen konnte.
Vielleicht, so vermutete sie, waren ihre Augen einfach nicht komplex genug zu sehen, was die Vordkönigin sah.
»Der Angriff geht gut voran«, sagte die Vordkönigin in geistesabwesendem Ton. »Gaius Attis, wenn
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