Codex Alera 06: Der erste Fürst
zurückkehren und dich ausruhen. Varg hat alles gut im Griff.«
»Ich sollte hierbleiben«, sagte Tavi. »Und zusehen. Wer weiß, vielleicht gibt es hier noch irgendetwas, einen Hinweis auf ihre Schwächen.«
Kitai betrachtete ihn mit einem Ausdruck, der gewaltige Geduld verriet, eine Geduld, die gleichwohl eindeutig hart auf die Probe gestellt wurde. »Aleraner«, sagte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen, »du solltest dich ausruhen. In deinem Wagen. Deinem geschlossenen Planwagen. Während so gut wie alle anderen noch mit der Schlacht beschäftigt sind.«
Tavi blinzelte sie an wie eine Eule – dann weiteten sich seine Augen. »Oh«, sagte er. Ein plötzliches Lächeln hob seine Mundwinkel. » Oh .«
Und Kitai schmiegte sich ohne weitere Vorwarnung an ihn. Angesichts der vielen Stahlschichten, die sich zwischen ihnen befanden, war nur ein begrenztes Maß an Sinnlichkeit möglich. Aber ihr Kuss war so versengend, dass Tavi glaubte, jeden Moment könnte die Rüstung von seinem Rücken herabschmelzen. Kitai zog sich von ihm zurück; ihre grünen Augen funkelten unter schweren Lidern. »Du warst heute schlau. Du warst stark .« Ihre Augen loderten noch heller. »Das steht dir gut.«
Sie küssten sich wieder, lang und hitzig. Dann lächelte Tavi und sagte, während seine Lippen ihre streiften: »Machen wir ein Wettrennen dorthin.«
Kitais Augen tanzten. Dann stieß sie ihn mit dem Ellenbogen beiseite, so dass er kurz abwärts taumelte, während sie sich mit ihrem eigenen Windstrom abstieß und im Sturzflug aufs Lager zueilte.
Tavi lachte und sauste ihr nach.
34
Isana war schon fast eingeschlafen, als sie von einem trillernden Vordschrei aufgescheucht wurde, den sie noch nie zuvor gehört hatte. Der heulende Klageton stieg und fiel so rasch, dass er fast wie Geplapper wirkte. Noch seltsamer war, dass er mit ohrenbetäubender Intensität durch das ruhige grüne Licht des Nests erscholl.
Isana saß auf dem Boden zu Araris’ Füßen und lehnte sich in die kissenähnliche Wärme des Kroatsch . Sowohl die Wand als auch der Boden gaben sanft unter ihr nach, als sie so zurückgelehnt dasaß, und bildeten gewissermaßen eine Liege unter ihr. Eigentlich war es sogar ganz gemütlich, solange man nicht zu intensiv darüber nachdachte, dass diese Masse einen jederzeit einhüllen und das Fleisch von den Knochen lösen konnte.
Isana öffnete die Augen gerade weit genug, um ihre Umgebung sehen zu können, und blieb still und reglos.
Die Königin kam aus ihrem kleinen vertieften Gehäuse herausgeschossen. Die Bewegung erinnerte Isana an eine Spinne, die aus einem trichterförmigen Netz hervorprescht, um ihre hilflose Beute zu packen. Sie hockte sich neben ein flaches Wasserbecken – Isana vermutete zumindest, dass es sich um Wasser handelte – auf der anderen Seite des Nests. Ihre starr wirkenden Lippen hoben sich von den schwarzen Chitinzähnen, und sie stieß ein wütendes Zischen aus, während sie auf das Becken hinabstarrte.
Isana nahm an, dass die Königin ein wassergewirktes Bild betrachtete. Das hieß, dass das Becken nicht einfach eine wassergefüllte Vertiefung im Boden war. Es war irgendwie mit den umliegenden Wasserwegen verbunden, durch die Elementare Bilder und Klänge übermitteln konnten.
Leise Schritte ertönten, und Invidia trat ein. Sie machte eine ärgerliche Geste in Richtung einer der Wände, und das ohrenbetäubende Heulen endete. »Was ist geschehen?«
»Meine Stammeltern sind angekommen«, murmelte die Königin gedämpft.
»Das ist unmöglich«, sagte Invidia. »Der Angriff wird gleich beginnen. Du darfst dich jetzt nicht in deiner Aufmerksamkeit ablenken lassen.«
»Offensichtlich ist es nicht unmöglich«, sagte die Königin mit einem sehr schwachen Unterton von Missbilligung.
Die Kreatur auf Invidias Brust bewegte sich. Invidia schloss die Augen, und für einen Moment wich alle Farbe aus ihren Wangen.
»Ich nehme an, er hätte in der Zeitspanne von Antillus herfliegen können«, sagte Invidia, weitaus leiser. »Wo ist er?«
»In Riva«, sagte die Vordkönigin geistesabwesend. »Er zerstört die Nahrungsvorräte.«
Invidia zog die Augenbrauen hoch – oder eher die Stelle, an der sich ihre Augenbrauen befunden hätten, wenn sie nicht weggesengt worden wären. Ihre Haut war immer noch ein Flickwerk aus verbranntem Fleisch. Die Narben würden, wie Isana annahm, von Dauer sein. Nicht einmal eine Wasserwirkerin von Invidias Fähigkeiten konnte sie jetzt, Tage nachdem sie die
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