Codex Alera 06: Der erste Fürst
durchscheinend.
»Dampf«, hauchte Amara.
»Wasserwirken?«, murmelte Bernard. Er schaute auf. Nur ein paar weiße, unschuldige Wolken rasten über den Himmel, und aus keiner von ihnen fiel Regen. »Wie?«
Amara runzelte die Stirn und sagte dann: »Sie müssen einen Fluss umgeleitet haben. Wie Aquitanius es in Alera Imperia getan hat.«
Bernard dachte einen Moment lang darüber nach. »Die Kleine Gans liegt etwa anderthalb Meilen hinter diesem letzten Hügel. Wäre es möglich, sie so weit umzuleiten?«
Amara versuchte, das dazwischenliegende Gelände vor ihrem inneren Auge zu sehen, besonders die Höhenunterschiede. »Das glaube ich eigentlich nicht«, sagte sie. »Wir sollten hier dreißig oder vierzig Fuß oberhalb des nächstgelegenen Flussabschnitts sein.«
Die Dampfwolke verdoppelte sich wieder und wieder, und die immer weiter aufsteigende Säule begann sich ihrem Standort auf der Mauer zu nähern.
Bernard pfiff. »Ernstzunehmendes Elementarwirken. Und sie haben es so weit draußen gemacht, dass wir der Königin selbst, wenn sie die Hand im Spiel hat, nicht einmal auf Sichtweite nahekommen können. Was meinst du, war das Invidias Einfall?«
Amara zuckte mit den Schultern. »Es müssten mehrere Wirker zusammenarbeiten, um so etwas zu erreichen. Wasser ist schwer. Um es dazu zu bringen, sich so gegen seine Natur zu bewegen … Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Sextus das hätte bewerkstelligen können.«
Bernard spuckte frustriert auf den Boden. »Ich nehme an, es dauert vielleicht eine Dreiviertelstunde, bis sie wieder geradewegs auf die Mauer zumarschieren können.«
Amara schüttelte den Kopf. »Weniger.«
»Ich hatte gedacht, wir hätten mindestens zwei, drei Stunden Zeit.« Bernard biss die Zähne zusammen, drehte sich um und stieg die Treppe zu den wartenden Pferden hinunter. »Wir machen besser, dass wir loskommen.«
38
Tavi war überlistet worden.
Kitai war natürlich eingeweiht gewesen.
Er hatte nicht schlafen wollen, nicht bei all der Arbeit, die noch anstand, um die Stadt zu sichern. Aber durch den noch nicht lange zurückliegenden Aderlass für Marok und die gewaltige Anstrengung des Elementarwirkens, die ihm die Tore von Riva abverlangt hatten, war er bereits erschöpft gewesen. Und Kitai war besonders … er suchte in Gedanken nach dem passenden Ausdruck. »Athletisch« schien es nicht richtig zu treffen. »Hartnäckig« war zwar eine zutreffendere Beschreibung, sagte aber nur auf sachlichster Ebene etwas aus. Er beschloss, dass es in seinem Wortschatz keinen Begriff gab, der solch eine hungrige, freudige, absolut ungehemmte Leidenschaft ausreichend beschrieben hätte.
Irgendwann war diskret etwas zu essen auf dem Bock des Wagens abgestellt worden. Tavi vermutete in der Rückschau, dass ihm eine winzige Menge Aphrodin beigemengt gewesen war, was sowohl seine, nun ja, extreme Konzentration auf den Abend als auch den fast komaähnlichen Zustand erklärt hätte, in dem er sich danach befunden hatte.
Er sah auf Kitais Haar hinab. Während er auf dem Rücken lag, blieb sie an seine Seite geschmiegt und ließ den Kopf auf seiner Brust ruhen. Ihr zartes weißes Haar verschleierte ihr Gesicht bis auf ihre weichen Lippen. Ein starker, schlanker Arm war über seine Brust gelegt. Ihr Bein ruhte halb auf seinem Oberschenkel. Sie schlief tief und fest und stieß dann und wann ein Geräusch aus, das ein ungnädiger (und unkluger) Mensch vielleicht als Schnarchen bezeichnet hätte.
Tavi schloss einen Moment lang zufrieden die Augen. Vielleicht hatten sie einander ja auch einfach nur so sehr gewollt. Wie auch immer, er brachte es einfach nicht fertig, sich darüber zu ärgern, dass ihm eine Nacht voll … Schlaf zuteilgeworden war, ganz gleich, wie hinterlistig sie in die Wege geleitet worden war.
Kitai murmelte im Schlaf irgendetwas, und Tavi spürte eine flüchtige, verschwommene Gefühlsregung von ihr, die sich schnell von einer Empfindung zur anderen verschob. Sie träumte. Tavi streichelte ihr mit einem Arm das Haar und erweiterte seine Wahrnehmung, versuchte, das Lager ringsum zu erspüren. Wenn in der Nacht etwas schiefgegangen war, musste das irgendwie zu erkennen sein. Und die Luft selbst, die allgemeine gefühlsmäßige Atmosphäre des Legionslagers, konnte ihm eine ganze Menge über die Verfassung seiner Soldaten verraten.
Um den Wagen war ein halbes Dutzend Wachen in einem Abstand postiert, der offensichtlich diskret sein sollte, aber sie hatten sicher nicht umhingekonnt, alles
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