Codex Alera 06: Der erste Fürst
Male, an die Tavi sich erinnern konnte, dass sie nicht ruhig und selbstbewusst wirkte. »Sechs Monate. Wenn der Vater Marat wäre. Aber unser Volk und deines … Das ist noch nie geschehen.« Sie schluckte, und Tavi dachte, dass sie in diesem Augenblick zerbrechlich und schön aussah, wie eine eisüberzogene Blume. »Ich weiß nicht, was geschehen wird. Niemand weiß, was geschehen wird.«
Tavi saß einen Moment lang in völligem Schweigen da und versuchte, diese so schlichte und gewaltige Wahrheit zu verstehen.
Er würde Vater werden.
Er würde Vater werden.
Eine kleine Person würde zur Welt kommen, und Tavi würde ihr Vater sein.
Kitais Finger strichen über seine Hand. »Bitte sag mir, was du denkst.«
»Ich …« Tavi schüttelte ratlos den Kopf. »Ich denke, dass … das hier die Dinge verändert. Es ändert alles.«
»Ja«, sagte Kitai mit sehr dünner Stimme.
Tavi blinzelte und ergriff dann ihre beiden Hände. »Nicht zwischen dir und mir, Kitai. Es ändert nichts an uns.«
Sie sah ihm suchend ins Gesicht, in die Augen, blinzelte zwei Mal, und eine Träne floss über jede ihrer Wangen, bevor sie sich auf ihr Wasserwirken besann und die Augen schloss.
Tavi zog sie plötzlich fest an sich, so dass er die Arme um sie legen konnte. »Nicht«, sagte er leise. »Wage es ja nicht zu denken, dass du sie vor mir verbergen musst.«
Sie presste ihr Gesicht an seine Brust, und ihre schlanken Arme umklammerten ihn plötzlich fester. Er wurde schlagartig daran erinnert, dass sie trotz ihres Größenunterschieds fast so stark war wie er. Und sie trug ein Kettenhemd. Ein eiskaltes Kettenhemd. Tavi zuckte zusammen, rührte sich aber sonst nicht.
Kitai ließ das Gesicht eine Weile an seiner Brust ruhen, und ihre Tränen – wärmer, als seine je waren – befeuchteten seine Haut.
»Ich wusste nicht, was du tun würdest«, sagte sie ein paar Augenblicke später, ohne die Arme zu lockern. »Was du denken würdest. Wir haben das alles nicht in der richtigen Reihenfolge getan.«
Tavi schwieg eine ganze Weile. Dann sagte er: »Du hattest Angst, dass unser Kind als Bastard betrachtet werden würde?«
»Natürlich«, sagte sie. »Ich habe Maximus’ Narben gesehen. Ich habe gesehen, wie böse Phrygiar Navaris geworden ist. Ich habe andere gesehen, die … die Außenseiter sind. Schlecht behandelt werden. Weil sie nicht ehelich sind. Als ob sie einfach durch ihre Geburt eines Verbrechens schuldig wären. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.«
Tavi blieb einige Zeit stumm und streichelte ihr Haar mit einer Hand. Dann sagte er: »Es gibt zwei Dinge, die wir tun könnten.«
Sie schniefte und hörte zu.
»Wir könnten alles so in die Wege leiten, dass das Kind nicht als Bastard gilt«, sagte er.
»Wie?«
»Oh, wir lügen natürlich. Wir heiraten sofort und sagen sonst nichts, und wenn der Kleine geboren wird, wundern wir uns, dass er …«
»Oder sie«, warf Kitai ein.
»Oder sie zu früh geboren worden ist.«
»Wird das niemand herausfinden? Ein Wahrheitsfinder würde sofort bemerken, dass das nur ein Märchen ist.«
»Oh«, sagte Tavi, »jeder würde bemerken, dass es ein Märchen ist. Aber niemand würde etwas sagen. Das bezeichnet man unter Leuten, die auf so etwas Wert legen, als ›höflich den Schein wahren‹. Gewiss, es gibt vielleicht etwas Gekicher hinter vorgehaltener Hand, ein paar Bemerkungen hinter unserem Rücken, aber niemand würde es ernsthaft in Zweifel ziehen.«
»Wirklich?«
»So etwas geschieht andauernd.«
»Aber … Aber es würde dennoch gegen das Kind verwendet werden. Man würde hinter seinem Rücken über ihn lachen. Es nutzen, um ihn zu ärgern …«
»Oder sie«, warf Tavi ein.
»Oder sie«, sagte Kitai. »Es wird für immer eine Schwäche bleiben, die ein anderer ausnutzen kann.«
»Ich vermute, das hängt von dem Kind ab«, sagte Tavi.
Kitai dachte einen Augenblick darüber nach. Dann sagte sie: »Was sonst könnten wir tun?«
Tavi hob sanft ihren Kopf, so dass sie ihn ansah. »Wir tun, was uns gefällt«, sagte er ruhig, »und fordern jeden heraus, dagegen etwas einzuwenden. Wir schenken unserem Kind all unsere Liebe und Unterstützung, ignorieren das Gesetz dort, wo es ihm schaden könnte, und fordern jeden zum Juris Macto , der uns in der Sache Schaden zuzufügen versucht. Wir tun etwas für alle unehelichen Kinder des Reichs und beginnen mit unserem eigenen.«
Kitais Augen blitzten in einem leuchtenden Grünton auf, als ein wilder Funke in ihnen aufflammte.
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