Codex Alera 06: Der erste Fürst
mitanzuhören, es sei denn, Kitai hatte daran gedacht, ein Windwirken vorzunehmen. Oder einer der Männer. Tavi stellte fest, dass er diese Tatsache weit weniger peinlich fand, als er es noch vor einem Jahr getan hätte.
Es gab viele schlimme Dinge auf der Welt, die einen dazu bewogen, dergleichen anders einzuschätzen. Es war nichts Welterschütterndes daran, wenn andere wussten, dass er und Kitai die Gesellschaft des jeweils anderen genossen.
Die Wachen waren aufmerksam und ruhig. Zwei Legionsburschen in der Nähe vermittelten den Eindruck von Männern, die mit alltäglichen Aufgaben befasst waren – also machten sie wohl Frühstück. Die Atmosphäre des Lagers war allgemein erwartungsvoll. Furcht mischte sich mit Erregung, Zorn auf die Invasoren mit Sorge um die eigenen Landsleute. Die Männer waren nicht dumm. Sie wussten, dass sie bald in den Krieg ziehen würden, aber da war keine Spur von Verzweiflung – nur gespannte Erwartung und Zuversicht.
Das war an und für sich schon fast die wertvollste Eigenschaft, über die eine Legion verfügen konnte. Legionshauptleute wussten schon lange, dass Siegesgewissheit zum Sieg führt.
Er hätte aufstehen, sich bewegen und die Männer in der Nähe aufscheuchen sollen, um die Rolle eines Princeps mit grenzenloser Kraft, Zuversicht und Energie zu spielen. Aber das einfache Bettzeug fühlte sich äußerst gemütlich an. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die beiden warmen, entspannten, schlafenden Wesen neben ihm, und …
Die beiden ?
Tavi setzte sich ruckartig auf.
»Du hast es mir nicht gesagt«, sagte Tavi leise.
Kitai war erwacht. Sie sah ihn schief an, dann blickte sie beiseite. Sie rammte die Arme in das stahlbefleckte gepolsterte Untergewand, das sie unter ihrem Kettenhemd trug, und begann es umzuschnallen.
Tavi drängte sanft: »Warum hast du mir nicht davon erzählt, Chala ?«
»Ich hätte nie mit dir hierherkommen sollen«, sagte Kitai in hartem Ton. »Ich hätte auf meinem eigenen Lager bleiben sollen, allein. Sollen es doch die Krähen holen! Ich wusste, dass du es spüren würdest, wenn wir zusammen sind. Ich war schwach.«
Tavi hörte, wie seine eigene Stimme eine zornige Schärfe annahm. »Warum hast du es mir nicht erzählt, Kitai?«
»Weil dein Volk wahnsinnig ist, wenn es um die Geburt von Kindern geht«, knurrte sie. »Was geschehen kann! Was nicht geschehen darf! Wann es geschehen muss, und in welcher Reihenfolge! Umstände, auf die man nicht den geringsten Einfluss hat, bestimmen, wie man für den Rest seines Lebens behandelt wird!« Sie hatte jetzt ihr Untergewand fertig zugeschnallt und starrte ihn böse an. »Du solltest das doch wissen, besser als jeder andere.«
Tavi verschränkte die Arme und sah ihr in die Augen. »Und inwiefern soll es deiner Meinung nach helfen, wenn du es vor mir verheimlichst?«
»Ich …« Kitai brach ab und wand sich in ihr Kettenhemd, eine Aufgabe, die von der Enge des Wagens erschwert wurde. »Ich wollte nicht, dass du mich zur Zielscheibe weiteren Wahnsinns machst.«
» Weiteren Wahnsinns?«, fragte er heftig. »Gib dir keine Mühe mit der Rüstung, Kitai. Du wirst sie nicht brauchen.«
Sie hob das Kinn, während sie daranging, sich das Haar zu einem Pferdeschwanz zurückzubinden. »Na? Siehst du? Weil ich unser Kind trage, erwartest du von mir, ruhig in irgendeiner Steinkiste zu hocken, bis es an der Zeit ist, es zur Welt zu bringen.«
»Nein«, sagte Tavi. »Ich erwarte von dir, dafür zu sorgen, dass unser …« Er versuchte, nicht an dem Wort zu ersticken. »… Kind … in Sicherheit ist.«
»In Sicherheit?« Kitai musterte ihn. »Einen solchen Ort gibt es nicht, Aleraner. Nicht mehr. Nicht bevor die Vord beseitigt sind. Es gibt nur Orte, an denen das Sterben länger dauern wird.«
Tavi wusste keine richtige Antwort darauf. Er setzte sich auf die Fersen zurück und starrte sie eine ganze Weile an.
»Deshalb hast du darauf bestanden, dass ich dir den Hof mache«, sagte er. »Dass wir getrennt schlafen.«
Kitais Wangen wurden rot. »Es … war ein Grund unter vielen, Aleraner.« Sie schluckte. »Es hatte viele Gründe.«
Tavi beugte sich vor und bot ihr die Hand.
Sie nahm sie.
Sie hielten sich einen ruhigen Moment lang an den Händen.
»Unser Kind«, sagte Tavi.
Sie nickte mit großen Augen, deren Ausdruck schwer zu deuten war.
»Wann hast du es erfahren?«
»Gegen Ende der Rückreise aus Canea«, sagte sie.
»Wie lange noch?«
Sie zuckte die Achseln. Es war eines der wenigen
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