Codex Alera 06: Der erste Fürst
Amara warf einen Blick über die Schulter. Die Mauer aus Gargylen hielt, aber nicht vollkommen. Hunderte von Fangschrecken schlüpften durch, und einer der Vordkolosse hatte trotz des unsicheren Grunds die Stelle erreicht, an der sich die Mauer befunden hatte. Wanderer kam schnell voran, aber nicht schnell genug, um den heranstürmenden Fangschrecken davonzulaufen.
Doch das musste er auch gar nicht.
Ein Chor von Antwortgebrüll ertönte vor ihnen, und einen Augenblick später kam aus der Dunkelheit hervor eine lange Reihe aus Garganten auf sie zugetrottet – Dorogas Stammesgenossen. Garganten, die in Zweier- oder Dreiergruppen vorrückten, trafen auf die Vord, die an den Gargylen vorbeigekommen waren, und zermalmten sie, bevor diese zu einer wirksamen Verfolgung der fliehenden aleranischen Legionen ansetzen konnten. Der Schlachtenlärm begann hinter ihnen zu verklingen, und Amara spürte, wie sie in Reaktion darauf erschauerte.
Sie fror nicht. Es handelte sich noch nicht einmal um die Nachwehen der Furcht, obwohl sie sicher Angst gehabt hatte.
Die Kälte durchströmte sie aufgrund dessen, was geschehen war.
Invidia hatte ihnen die Wahrheit gesagt. Sie hatten nicht mit der schieren Größe der Vordkolosse gerechnet, aber Invidia hatte durchaus versucht, ihnen zu vermitteln, dass sie größer als Garganten waren.
Sie hatte die Wahrheit gesagt.
Wenn auch nur die Hoffnung bestand, dass sie tatsächlich in der Lage sein könnte, ihr Versprechen zu halten, sie zur Vordkönigin zu führen und den Krieg zu beenden, würden sie keine andere Wahl haben, als das Angebot anzunehmen.
Amara sah nach oben. Die Schlacht neigte sich auch am Himmel dem Ende zu, und die Flieger landeten, um die Marat dabei zu unterstützen, die anstürmenden Vord aufzuhalten. Sie würden die letzten Truppen sein, die das Schlachtfeld verließen – sie waren so schnell, dass sie sogar, wenn sie noch zwei oder drei Stunden weiterkämpften, Kaserna durchaus noch vor einigen der Legionen erreichen konnten.
Invidia hatte die Wahrheit gesagt.
Das eine, was Amara nicht gebrauchen konnte, war, bei ihrer Einschätzung der Lage das rechte Maß zu verlieren, aber sie konnte nicht anders. Hoffnung keimte in ihrer Brust auf, Hoffnung, dass Invidia vielleicht wirklich aufrichtig war. Dass vielleicht all die Gräuel, die sie gesehen und verübt hatte, etwas daran geändert hatten, wer sie war. Obwohl jede vernünftige Faser in Amaras Hirn ihr das Gegenteil sagte, tanzte die törichte Hoffnung weiter in ihre Gedanken herein und wieder hinaus.
Hoffnung. Ein gefährliches Gefühl. Sehr, sehr gefährlich.
Amara spürte, wie sie beim Lächeln die Zähne bleckte. Die eigentliche Frage war doch folgende: Wessen Hoffnung war törichter? Ihre eigene?
Oder Invidias?
46
»Dir ist natürlich bewusst«, sagte Attis matt, »dass sie dich verraten wird.«
Der Princeps ruhte in dem Bett in den Gemächern, die gewöhnlich Amara und Bernard vorbehalten waren, und lag im Sterben. Attis hatte allen verboten, das Zimmer zu betreten, außer Aria, Veradis, seinen Ärzten – und Amara.
Aus gutem Grund. Er sah fürchterlich aus und war binnen weniger Tage von einem prachtvollen männlichen Wesen zu einer verhungernden Vogelscheuche heruntergekommen. Die Haare begannen ihm auszufallen. Seine Haut hatte einen gelblichen Farbton angenommen, und schrecklicher Gestank umgab ihn. Keine Menge von Weihrauch konnte den Geruch überdecken. Er konnte ihm nur die Schärfe nehmen. Er schlug sogar den Gargantenduft im Zimmer um Längen.
»Ist es nicht möglich«, fragte Amara, »dass Invidia einen Sinneswandel durchgemacht hat?«
»Nein«, sagte Attis ruhig. »Das würde voraussetzen, dass sie bei Sinnen ist. Und auch, dass sie imstande ist, sich ihre Fehler einzugestehen.«
»Bist du dir dessen sicher?«, fragte Amara. »Ohne jeden Zweifel?«
»Vollkommen.«
»Das war auch meine Einschätzung, Hoheit«, sagte Amara leise.
Attis lächelte schwach. »Gut.« Seine Augenlider flatterten zu, und der Atem stockte ihm für eine Sekunde.
»Herr?«, fragte Amara. »Soll ich nach einem Heiler schicken?«
»Nein«, krächzte er. »Nein. Spar ihre Kraft für Männer auf, die überleben könnten.« Er keuchte einen Moment lang, bevor er die Augen wieder öffnete. Sie waren glasig vor Müdigkeit. »Du hast vor, sie zu benutzen«, sagte er.
Amara nickte. »Entweder führt sie uns zur Vordkönigin und verrät uns an sie. Oder sie führt uns nicht zur Königin und verrät uns. Oder sie
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