Codex Alera 06: Der erste Fürst
an Invidias Brust zischte und regte die Glieder. Invidia brachte ein ersticktes Geräusch hervor und fiel auf die Knie. Sekundenlang biss sie die Zähne zusammen, um einen Schrei zu unterdrücken, und sank dann zu Boden.
Einen Augenblick später stemmte sie sich langsam hoch. Sie nickte der Königin zu und ging mit dem maskenhaften Gesichtsausdruck, den Isana sie schon oft hatte einsetzen sehen, um Zorn zu verbergen.
Die Königin ignorierte Isana und kehrte in die Nische zurück, um in das grüne Licht über sich emporzustarren.
Isana wandte sich ab und ging langsam zu Araris hinüber, wobei ihr Herz schneller schlug. Sie starrte ihm durch das trüb durchscheinende Kroatsch , das ihn gefangen hielt, in die Augen und formte mit den Lippen das Wort bald .
Einen Augenblick lang zuckte eine seiner Lippen und entblößte die Zähne zu einem ganz winzigen wölfischen Lächeln.
Isana nickte und ließ sich wieder auf dem Boden nieder. Sie wartete. Aber nicht mehr lange. Bald, so sagte sie sich, würde der rechte Zeitpunkt kommen, um zu handeln.
Bald.
Gaius Octavian ritt auf seinem Pferd zur Spitze der wahrhaft ungewöhnlichen Kolonne, die sich hinter ihm erstreckte, und schauderte, während Acteon durch die kalten Stunden um Mitternacht stetig die Dammstraße entlangstapfte. Tavi war nie zu Fuß oder mit dem Pferd über die Straße außerhalb des Tals gereist, aber als der Mond aufgegangen war, hatte er den hohen Gipfel des Garados sehen können, der über den anderen Bergen aufragte wie ein gewaltig großer, übellauniger Betrunkener am Ende eines Erntefests.
Er war beinahe zu Hause.
Neben ihm ritt Kitai mit derselben lässigen Eleganz, mit der sie jede Unternehmung anging – und wenn sie erschöpft aussah, konnte Tavi ihr das schwerlich zum Vorwurf machen. Er war für seine Begriffe mehr als müde genug, genau wie jeder Mann und Cane, der hier bei ihm war. Aber er war besser vorangekommen, als sogar er selbst es erwartet hatte. Sie würden das westliche Ende des Tals weit vor Sonnenaufgang erreichen. Und dann …
Er schauderte erneut.
Und dann würde er alle, die an seiner Seite ritten, in Gefahr bringen. Wenn er Glück hatte, würde er sich mit den Verteidigern des Tals absprechen können, um einen gemeinsamen Angriff von beiden Seiten zu führen. Obwohl die Aleraner sehr in der Unterzahl waren, würden sie vielleicht doch in der Lage sein, ihr Elementarwirken und das Gelände zu nutzen, um den Feind zu überwinden – und die Vordkönigin zu zwingen, sich zu zeigen und einzugreifen.
Und dann würde er herausfinden, ob ein Leben harter Kämpfe sein Reich und sein Volk retten würde – oder sehen, wie beides in Stücke zerschmettert und verschlungen wurde. Auf jeden Fall, so sagte er sich, würde alles, was er je gewesen war und getan hatte, bald seine Rechtfertigung erfahren – oder für ungenügend befunden werden.
Bald.
47
Isana hatte vor, die ganze Nacht wach zu bleiben, musste aber feststellen, dass sie es nicht konnte. Die ständige, unveränderliche Beleuchtung des Nests hatte es ihrem Körper unmöglich gemacht zu wissen, ob es Nacht oder Tag war. Sie hatte seit wohl etwa zwei Wochen nur gelegentlich kurz und unruhig geschlafen. Jetzt, am Ende, da ihre Aufmerksamkeit und Konzentration wichtiger war denn je, pirschte sich der Schlaf an sie heran – und als ihr endlich bewusst wurde, was er vorhatte, war es zu spät.
Sie fuhr mit einem kleinen Ruck aus dem Schlaf hoch, ließ den Blick stumm durch das Nest schweifen, ohne den Kopf zu bewegen, und achtete darauf, sonst nichts zu tun, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Alles war still. Die Vordkönigin stand in diesem schrecklichen alten Kleid in der Nische und starrte unverwandt hinauf ins grüne Licht. Das lange weiße Haar fiel ihr als zarter Schleier über den Rücken und über ihre Brüste. Sie schenkte Isana keine Aufmerksamkeit, aber das war kaum etwas Ungewöhnliches.
Und dennoch …
Irgendetwas war anders. Etwas, das sie weder bestimmen noch beschreiben konnte, lastete auf Isanas Sinnen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Der Tod lag in der Luft.
Invidia betrat das Nest. Die brandnarbige Frau wirkte erschöpft. Sie schritt mit einem Nicken in Richtung der Königin durch das Nest und wurde genauso gründlich ignoriert wie Isana.
Invidia ging geradewegs auf Isana zu und hockte sich hin. Eine winzige Bewegung eines Fingers und eine Zunahme des Drucks um Isanas Trommelfelle dienten ihr als Vorwarnung, dass eine sehr
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