Codex Alera 06: Der erste Fürst
stellen.«
»Du hältst Individualität für eine Schwäche?«
»Offensichtlich.«
»Dann kann man nicht umhin, sich zu fragen, warum du selbst darüber verfügst.«
Die Vordkönigin sah Isana an. Ihre fremdartigen Augen waren verengt. Sie schwieg eine ganze Weile, bevor sie wieder aufschaute und antwortete: »Ich bin fehlerbehaftet.« Grünes Licht strömte eine Zeit lang über ihr nach oben gerichtetes Gesicht, bevor sie sagte: »Ich habe deinem Sohn gestern Abend ein vergiftetes Schwert durch den Verdauungstrakt gestoßen.«
Isana spürte, wie ihr der Atem stockte.
»Er schien auf bestem Wege in den Tod zu sein, als ich ihn zurückgelassen habe.«
Isanas Herz klopfte heftig, und sie leckte sich die Lippen. »Und doch sagst du nicht, dass er tot ist.«
»Nein.«
»Warum hast du ihn dann nicht getötet?«, fragte Isana.
»Die Kosten-Nutzen-Rechnung ging zu ungünstig aus.«
»Mit anderen Worten«, sagte Isana, »er hat dich vertrieben.«
»Er und ungefähr vierzigtausend Soldaten. Ja.« Sie ließ die Hände spielen, Finger um Finger, und schwarze Nägel fuhren wie Krallen aus und zogen sich dann zurück. »Das macht aber nichts. Zu dem Zeitpunkt, wenn sie eintreffen werden, wird die Festung, die man Kaserna nennt, verschwunden sein, und die Aleraner in alle Winde verstreut. Sie kämpfen auf den Mauern, als wären sie in ihnen verankert. Erwartest du, dass ich ihnen diesen Vorteil einfach lassen werde?«
Isana verschränkte die Arme vor der Brust. »Was tust du denn, um sie zu besiegen?«
»Du bist mit der Festung vertraut?«
»Ein wenig«, sagte Isana. Im Grunde genommen war das keine richtige Lüge. Ihr Wissen über die neuen Verteidigungsanlagen war im Vergleich zu dem vieler anderer geradezu lückenhaft.
»Dann weißt du, dass sie einen natürlichen Engpass sperrt – einen steilen Felseinschnitt. Es gibt keinen gangbaren Weg, um große Truppenkontingente von diesem Kontinent auf den nächsten zu bewegen, der nicht durch die Festung führt.«
»Ja«, sagte Isana.
»So gut wie unpassierbar ist nicht dasselbe wie unpassierbar«, sagte die Vordkönigin. »Meine Kinder kümmern sich wenig um senkrechte Landbarrieren. Sie haben sie schon in bedeutender Zahl nördlich und südlich der Festung überwunden. Sie werden von beiden Seiten zur Festung vorrücken und sie umzingeln, und während sie das tun, werden meine Kolosse die Mauern zu Schutt zermalmen. Und dann, Großmutter, wird es mir freistehen, mich auf Octavi …«
Das Heulen eines Windstroms ertönte, fast direkt am Eingang des Nests, und der schwarze Facettenblick der Königin richtete sich dorthin. Dutzende und Aberdutzende von Wachsspinnen tauchten wie aus dem Nichts auf und strömten aus dem Kroatsch an Decke, Boden und Wänden hervor.
Invidia trat schnellen Schritts ein. Eine nervöse Spinne sprang sie mit ausgefahrenen Fängen an, und sie schlug sie aus der Luft, ohne langsamer zu werden. »Halt das Umgehungsmanöver auf. Sofort.«
Die Königin ließ ein katzenhaftes Zischen ertönen, bei dem sich ihre Lippen von den Zähnen lösten. Dann erfolgte eine verschwommene Bewegung, und plötzlich waren Invidias Schultern sieben Fuß über dem Boden an die Rückwand des Nests gedrückt. Die Vordkönigin hielt sie mit einer Hand an der Kehle gepackt, und Invidias Fersen zappelten und trommelten gegen die Wand.
»Wo bist du gewesen ?«, knurrte die Vordkönigin.
Invidia rang weiter nach Luft, und ihr Gesicht rötete sich noch mehr. Die Vordkönigin legte den Kopf schief, starrte sie an und zischte noch einmal leiser: »Die Festung. Warum warst du in der Festung ?«
Invidias Augen rollten in ihrem Kopf nach hinten, und ihr Gesicht lief purpurn an.
Isana räusperte sich sanft. »Du bekommst vielleicht eine zusammenhängendere Antwort, wenn du sie loslässt.«
Die Königin sah über die Schulter Isana an, dann wieder Invidia. Dann ließ sie sie einfach los, und die Aleranerin brach auf dem Boden zusammen. Invidia lag einen Moment lang keuchend da, die Hand an der Kehle, und Isana konnte tatsächlich zusehen, wie die eingedrückten Dellen in Invidias Luftröhre von ihrem Wasserwirken wieder in die richtige Form geschoben wurden.
»Ich habe«, krächzte sie einen Augenblick später, »unsere Zukunft gesichert.«
»Was?«
»Es war zu einfach. Sie haben dir mit voller Absicht einen offensichtlichen Zugang gelassen.« Sie schluckte und verzog das Gesicht. »Ich habe die Oberseite der Klippen ausgekundschaftet. Es ist eine Falle.«
Die
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