Codex Alera 06: Der erste Fürst
jenseits der Scheune, wohl hundert oder mehr. Weitere Wachtposten hockten etwa alle zehn Fuß um die Außenwände der Scheune herum. Wachsspinnen huschten herum, spien frische Kroatsch -Flecken aus und purzelten dann wieder hinein, um mehr zu holen.
»Erinnert dich das an irgendetwas?«, fragte Tavi Kitai leise.
Sie nickte. »Das Nest der Königin unter Alera Imperia.«
Das schrille Heulen von Windströmen, die aleranische Flieger trugen, kreischte weit über ihnen. Tavi schaute auf und sah eine Fliegerin sauber zum Eingang der Scheune hinabgleiten – eine schlanke, ganz in Schwarz gekleidete Frau, deren Kopf üble Brandnarben aufwies. Sie ging durch die Schar von Fangschrecken hindurch, stieß sie aus dem Weg wie ungezogene Lämmer, warf dann einen Blick über die Schulter und verschwand in der Scheune.
»Sie ist da«, hörte er sich selbst flüstern. »Verfluchte Krähen, die Königin ist gleich dort drüben in der Scheune.«
Kitais Hand fuhr an ihr Schwert. »Sollten wir nicht angreifen?«
Er schüttelte den Kopf. Gemeinsam wendeten sie die Pferde und begannen, sich langsam und stetig zum Heer zurückzubewegen.
Kitai starrte ihn sichtlich erzürnt an, als sie wieder in den Nebel eindrangen, und parierte ihr Pferd. »Das war eine Gelegenheit. Vielleicht die beste, die wir je bekommen werden. Es war töricht von dir, sie dir wegen irgendeines verrückten Beschützerinstinkts entgehen zu lassen.«
»Darum ging es gar nicht, Kitai.«
»Nein, bei den Krähen!«, sagte Kitai. »Und wenn du auch nur einen Moment lang annimmst, dass du diese Königin allein jagen wirst, Aleraner, dann irrst du dich. Ich erlaube dir nicht , ihr allein gegenüberzutreten.«
»Kitai …«
»Ich weiß nicht, wer zu dieser Eingreiftruppe gehört, die du erwähnt hast, aber ich trete ihr hiermit bei.«
»Du gehörst nicht zur Eingreiftruppe. Du bist die Eingreiftruppe. Ich habe ohnehin schon beschlossen, dass der sicherste Platz für dich an meiner Seite ist.«
Sie kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Hast du das?«
Er nickte. Dann zügelte er sein Pferd und wandte sich ihr zu. »Ich möchte, dass du meine Gefährtin wirst«, sagte er und ahmte ihr akzentbehaftetes Aleranisch perfekt nach. »Fordere mich zu einem Wettkampf deiner Wahl heraus.«
Sie legte den Kopf schief. »Was?«
»Du hast gehört, was ich gesagt habe«, sagte er.
Kitai starrte ihn noch einen Moment lang an und sagte dann: »Möge der Sieger des Wettstreits derjenige sein, der die Vordkönigin tötet.«
Tavi lachte auf. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass du mich gar nicht heiraten willst.«
Sie lächelte ihn an. »Nein, du Dummkopf«, sagte sie, »das möchte ich ganz gewiss. Töte diese Kreatur, mein Aleraner, und mach unsere Welt zu einem Ort, an dem wir wieder leben können und an dem unser Kind in Sicherheit aufwachsen kann. Töte sie, dann bin ich dein, bis dass der Tod uns scheidet.«
Tavi starrte Kitai an und dachte, dass er noch nie ein so schönes Wesen gesehen hatte. Er beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie fest auf den Mund. Als der Kuss vorüber war, lehnten sie die Stirn aneinander, bis Kitais Pferd zur Seite tänzelte und sie beide beinahe aus dem Sattel fielen.
Sie tauschten ein weiteres Lächeln, richteten sich auf und kehrten zum Heer zurück.
Tavi ritt zu Fidelias, der neben Varg stand und mit ihm redete. »Gut«, sagte er, »es ist gleich da vorn. Gib den Befehl zum Abmarsch und mach dich bereit, zum Angriff zu blasen.«
50
Invidia starrte die Vordkönigin wie gelähmt an.
»Begeh jetzt keinen tödlichen Fehler, Invidia«, sagte die Vordkönigin mit ruhiger Stimme. »Eine weitere tote Aleranerin bedeutet mir nichts. Auch dir sollten ein paar mehr jetzt nichts mehr bedeuten. Töte sie, und ich werde dir gegenüber Wort halten.«
Invidia biss sich auf die Lippen. Dann beugte sie sich langsam vor, die Finger nach dem Schwertgriff ausgestreckt. Sobald sie ihn berührte, schien sich etwas in ihr zu festigen, irgendeine Entschlossenheit, die ihren Gesichtsausdruck glatt und kalt wie Glas im Winter machte. Ihre Hand schien an Kraft zu gewinnen, als sie die Klinge berührte. Dann hob sie sie an und wandte sich den beiden Aleranerinnen mit hartem Blick zu. Wahnsinniger, bitterer Zorn stieg von ihr auf wie der Rauch von den versengten Kadavern ringsum. »Das habt ihr euch selbst zuzuschreiben.«
Es geschah zu schnell. Eben noch hatte Invidia dazu angesetzt, einen Schritt vorwärts zu machen, das Schwert
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